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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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unüblich, zumindest wenn Baba zu Hause war. Aus irgendeinem Grund dachte er, wir würden nur über ihn lachen, er dachte, unsere ganze Welt würde sich nur um ihn drehen. Glücklicherweise machte mir das nichts aus, denn ich war nicht gerade ein fröhliches Kind, und wenn Baba schrie und Mama weinte, verging mir sowieso jede Lust am Lachen.
    Ich versuchte, mit Baba Schritt zu halten und seinen muffigen Gesichtsausdruck ebenfalls aufzusetzen. Im Kampf gegen Erwachsene ist die klügste Vorgehensweise, sie nachzuahmen – denn Erwachsene finden alles toll, was ihnen ähnlich ist. Babas Miene zu imitieren erwies sich als Herausforderung, immerhin trug er den legendär schlecht gelauntesten Ausdruck der Welt in seinem Gesicht. Es war ein Blick, der ganz genau verriet, dass mit Baba nicht gut Kirschen essen war. Baba sagte einmal, alle Menschen kämen als Unikate auf die Welt und endeten als Kopien anderer. Deshalb hielt er nie viel von Helden oder Idolen, jeder sollte sich selbst zum Vorbild nehmen – ein Grundsatz, den er stets befolgte. Baba war ein stämmiger, klein gewachsener Mann mit buschigen Augenbrauen und einem breiten Schädel, der ihm etwas Animalisches und Wildes verlieh. Seine zähe dunkle Lederhaut zeigte tiefe Falten, wie Risse in der Erde. Vielleicht waren es Spuren der langen Arbeitsjahre und der unbezahlten Rechnungen oder der Abneigung gegen allerlei Schönheitsprodukte. Für Baba gab es nur Wasser und Seife, und wenn er seinen Bart mit einem zugespitzten Rasiermesser entfernte, wirkte er wie ein Nomade aus der Wüste. Einmal schnitt er sich mit dem scharfen Messer, und als das Blut nur so spritzte, eilte Mama mit Pflaster und Wundsalbe herbei.
    »Weg mit diesem Weiberkram!«, brüllte Baba und warf ihr die Salbe an den Kopf – selbst bei Wundsalbe schreckte er auf, wie eine Katze, die man in die Badewanne geworfen hatte. Baba brauchte nie Wundsalbe, kein Pflaster und schon gar nicht Medizin.
    »Menschen spielen Gott, wenn sie Medizin nehmen«, sagte er, aß stattdessen zwei rohe Zwiebeln oder trank den bitteren Saft einiger Limonen, weil er nicht Gott spielen wollte.
    Unser Fußmarsch zog sich in die Länge. Schweigen lag wie fester Industriesmog in der Luft. Wir gingen durch die Straßen von Pirmasens. Pirmasens, wo es kaum Arbeit gab, wo nur wenige Braune wie wir lebten, wo die Nachbarn tuschelten, wenn die Kopftuchmama ihre Kinder zur Schule brachte, wo der ölige Fabrikregen die Häuser und Gedanken der Bewohner unter Wasser setzte, wo die Männer früher starben und die Unternehmen schneller pleitegingen als in irgendeiner anderen Stadt Deutschlands. Weil es ständig regnete, roch die Stadt nach nassem Hund und tropfenden Leibern, der Boden war matschig, wie Mamas Haferschleim am Ende des Monats, und der Himmel grau, wie Babas Zukunftsaussicht für seinen Sohnemann. Brach erst die Dämmerung über die Stadt herein, fand man nirgends einen offenen Kiosk mehr und fühlte sich genauso mutterseelenallein wie auf einem verlassenen Friedhof.
    Schließlich erreichten wir Saods Imbissbude. Saod war Araber, Baba war Araber, und die Araber kannten sich hier untereinander, denn in Pirmasens gab es nur wenige Landsleute. Saod verkaufte Döner und Falafel. Baba bestellte Falafel in Brot, obwohl ich lieber Döner gegessen hätte. Wundern tat mich das nicht, ich wäre entsetzt gewesen, wenn er mich gefragt hätte, was ich wollte. Alle wollten, was Baba wollte. Basta . Während wir warteten, führte er den üblichen Small Talk mit Saod, wie es den Kindern, dem Bruder, der Schwester, dem Mann der Schwester und den anderen achtzig Familienmitgliedern so ginge. Gespräche unter Arabern bestanden immer aus Höflichkeitsfloskeln, Politik und Beschwerden über das ungerechte Schicksal. Saod, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine Schürze über das vollgesaute T-Shirt zu binden, überreichte uns die Brote und beendete damit das Gespräch. Wir setzten uns auf die Hocker an dem Imbisstisch.
    Der köstliche Geruch frittierter Kichererbsenbällchen stieg mir in die Nase, es war ein wundervolles Gefühl, essen zu gehen – wie Leute mit Geld –, selbst wenn es sich nur um einen mickrigen Imbiss handelte und ich Saod schon mehrere Male beim Nasepopeln erwischt hatte. Voller Vorfreude biss ich in das weiche Brot, ich war zufrieden, den ganzen Tag hatte ich noch keine Schläge bekommen, ich wurde kein einziges Mal beleidigt – es war der beste Geburtstag überhaupt. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende
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