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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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die Zunge abgebissen als zuzugeben. Stattdessen bestand er beharrlich darauf, dass dieser Job und dieses Leben alles wären, wovon er je geträumt hatte. Dabei war er ersetzbar wie ein Sandkorn in den Dünen der Fabrikwüsten, und das spannendste Ereignis in diesem Monat war, dass er die verstopfte Toilette von den Fäkalien der letzten Woche befreit hatte. Er hatte einfach seinen Arm in die Jauche getunkt und die Toilette wieder funktionstüchtig gemacht – die Gemeinschaftstoilette, die nach der Kanalisation einer gesamten Stadt stank. Vielleicht erinnerte sich Baba auch nicht mehr an seine Träume, vielleicht wurden sie von der Realität weggespült wie Exkremente von der Klospülung. Ich wusste es nicht. Doch an Baba sah ich, wie die Erwartungen der Menschen an das Leben mit zunehmendem Alter sanken. Das machte mir Angst. So wollte ich nicht enden: wie ein Mann, der nichts außer einer sauberen Toilette vom Leben erwartete. Auch wenn Baba nie zugegeben hätte, nichts zu haben und nichts zu sein, nahm er das latente Verlangen nach Anerkennung überallhin mit – selbst in Saods Imbissbude. Ja, Baba war ein Mann mit Biss, ein Mann der Reden schwingen konnte wie ein echter Führer. Er war so überzeugend, dass wir am Ende des Tages stolz darauf sein konnten, so viel wert wie eine Falafel zu sein.

KAPITEL 2
Das Versprechen
Die beste Erziehungsmethode für ein Kind ist, ihm eine gute Mutter zu verschaffen.
Christian Morgenstern
    Woran genau misst man den Wert eines Menschen? Mama sagte, »an den guten und schlechten Taten«. Baba meinte, »anhand der Willensstärke«. Meine Mitschüler kümmerte es einen feuchten Furz, wie viele gute und schlechte Taten ich getan oder wie viel Willensstärke ich hatte. Die bewarfen mich mit Kastanien, wenn ich eine Woche lang dieselben Hosen trug. Deshalb wollte ich wissen, ob man den Wert eines Menschen nicht schon an seiner Kleidung bemessen konnte. Baba gähnte und meinte, ich würde für mein Alter sehr viele Fragen stellen, am besten sollte ich mich schlafen legen oder andere Dinge tun, die Kinder in meinem Alter so taten. Das war ich gewohnt, »Geh schlafen«, »Geh spielen« und »Ich bin müde« waren die Lieblingsantworten meiner Eltern auf meine Fragen. Was taten Kinder in meinem Alter? Sie spielten mit ihren Freunden oder mit ihren Spielsachen. Kinder hatten Spielzeug, viel Spielzeug – wenn Baba also wollte, dass ich tat, was andere Kinder so taten, hatte er mir gefälligst Spielzeug zu kaufen. Doch um Spielzeug zu kaufen, brauchte man Geld, und davon hatten wir nicht viel. Das sagte ich natürlich nicht, ich war ein Kind, das weder die Wahrheit aussprechen noch Fragen stellen durfte. Baba begründete den Mangel an Spielzeug und Geld auf seine eigene Weise. Spielzeug würde Kinder dumm machen, Reichtum läge nicht im materiellen Besitz und Geld – Geld sei sowieso ein Werk des Teufels. So gesehen war ich froh, dass wir nie Geld hatten, denn mit dem Teufel wollte ich nichts am Hut haben.
    Wenn Amani und ich unzufrieden waren, ermahnte Mama uns: Wir sollten Gott für das gute Leben in Deutschland danken, denn Sicherheit sei das wertvollste Gut. Ich war nicht dankbar. Und ich verstand nicht, wofür ich hätte dankbar sein sollen. Die ersten Jahre in Pirmasens verbrachten wir zusammengepfercht wie Hühner in Käfighaltung, in einer Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Viertel, das von Arbeitslosen und Alkoholikern bevölkert war. Ich verstand nie, warum uns das Wohnungsamt zu denen gesteckt hatte, denn bei uns in der Familie gab es weder Säufer noch Arbeitslose. Vielleicht lag es daran, dass meine Eltern Flüchtlinge waren: hoffnungslose Fälle, bei denen man davon ausging, dass sie als arbeitslose Alkoholiker enden würden. Toilette und Dusche mussten wir uns mit dem Rest der Hausbewohnerschaft teilen, und einige von denen pinkelten gerne mal ins Waschbecken statt in die Toilette. Unsere »Wohnung« war winzig klein und verdiente diese Bezeichnung ganz und gar nicht. In einer Wohnung gab es eine Küche, ein Bad, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. In einer Wohnung stank es nicht nach fauligem Schimmel, der sich auf der Wand entlangzog, und auch nicht nach der Pisse von zehn in Waschbecken pinkelnden Alkoholikern. In einer Wohnung hatte jeder sein eigenes Bett, Fotos der Kinder hingen an den Wänden und es gab einen Esstisch, auf dem eine Vase mit echten Blumen stand. Wir hingegen teilten uns zu viert zwei Matratzen, zwei Decken und zwei Kissen. An kalten
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