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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Sachen von der Wohlfahrt seien nur was für Menschen ohne Ehre. Mama schimpfte über Baba und seine idiotische Ehre: »Du hast Kinder, rein wie Goldstücke. Schau, sie geben sich mit Sachen vom Müll zufrieden und werden dafür noch beleidigt.« »Das Leben ist hart. Wenn du Honig essen willst, musst du dich erst von den Bienen stechen lassen«, entgegnete Baba. Ich wusste nicht, was er damit meinte, ich hatte noch nie Bienen im Supermarkt gesehen.
    Ich konnte es nicht fassen, dass Menschen so gute Dinge wegschmissen, dass sie überhaupt irgendetwas wegschmissen. Kleidung wurde bei uns so lange recycelt, bis man nicht mehr erkennen konnte, worum es sich ursprünglich mal gehandelt hatte. Die Kleidungsstücke machten ihre eigene evolutionäre Entwicklung durch: Hosen wurden zu Shorts, Gardinen zu Sommerkleidern, Unterhosen zu Putzlappen – Mamas Fantasie kannte beim Umnähen keine Grenzen. Auch mit dem Essen mussten wir sparsam umgehen. Unsere Teller hatten wir am Ende der Mahlzeit blitzeblank zu lecken, denn Essensverschwendung war die schlimmste aller Verschwendungen, wie Baba zu sagen pflegte – schließlich verhungerten massenweise Kinder in Palästina. Doch das musste uns niemand sagen, wir waren sowieso immer hungrig. Unser Kühlschrank war meistens leer, aber das war nicht schlimm. Jeder Tag, an dem es zu Hause keinen Krieg gab, war ein guter Tag, auch wenn der Kühlschrank leer und die Badewanne ein Einkaufskorb war – für Waffenstillstand wäre ich bereit gewesen, mein letztes Stück Brot zu opfern.
    Die Wände unseres Schuhkartons waren voller Löcher. Neben unserem Haus stand ein riesiger Müllcontainer, der immer überquoll und bis zum Himmel stank. Unser Wohnblock war ein regelrechtes Rattenparadies. An manchen Tagen besuchte mich eine spezielle kleine Ratte. Amani sprang herum und Mama schrie, ich aber mochte die Ratte und bewahrte immer ein Stück Käse für sie auf. Ich brachte der Ratte bei, ein Stück Pappe anzuheben, um an den Käse zu kommen, und im Zickzack zu laufen, wenn ich eine bestimmte Handbewegung machte. Die Ratte mochte mich, weil ich sie fütterte, und ich mochte die Ratte, weil sie mich mochte. Ich hatte nie Freunde und war froh, einen Rattenfreund gefunden zu haben. Mama meinte, ihr Sohn sei ein Rattenfänger, Amani sagte, ihr Bruder könnte mit dem Viech im Zirkus auftreten, und als Baba mich eines Tages beim Füttern erwischte, schnappte er nach dem Besen und erschlug die kleine Ratte. Nach einem qualvollen Piepsen blieb das Tier, das sein Leben für ein Stück Käse lassen musste, bewegungslos liegen.
    Baba hatte meinen einzigen Freund getötet – und alles, was er dazu sagte, war: »Hier wird nichts verschenkt«, sichtlich erschüttert, dass ich unsere raren Nahrungsrationen mit einer Ratte geteilt hatte. Ich war voller Kummer, denn es fiel mir schwer, Freunde zu finden. Ich war wütend, wütend auf die Erwachsenen, weil sie ständig Gott spielten und Leben beenden konnten, wann immer sie Lust dazu hatten. Ich wusste, Gott würde es nicht gefallen, wenn Erwachsene Dinge taten, die nur er tun durfte. An diesem Tag fragte ich mich, warum es schlimm war, Käse zu teilen, wenn materieller Besitz bedeutungslos und Geld ein Werk des Teufels sei. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was materieller Besitz war, aber Käse hörte sich an wie materieller Besitz. Baba hatte wegen Käse gemordet – was hätte er gemacht, wenn ich Geld verschenkt hätte? Erwachsene taten eben nie das, was sie ihren Kindern predigten. An solchen Tagen hasste ich Baba zu Tode. Es gab viele Tage, an denen ich Baba zu Tode hasste, etwa wenn er nach Hause kam, seine Schuhe auszog, Amani und mir befahl, vor ihm niederzuknien und seine Füße zu küssen. Füße in löchrigen Socken, Füße in alten Schuhen, dampfende Füße, die zehn Stunden gestanden und geackert hatten. Ich hasste Baba, denn er war so geizig, dass wir im Winter vor Kälte bibberten, weil wir die Heizung nicht anmachen durften. Ich hasste ihn, weil er mich schlug, wenn ich in der Klassenarbeit eine schlechte Note geschrieben hatte, und mich ebenfalls schlug, wenn ich ein gutes Zeugnis mit nach Hause brachte, weil ihn das deutsche Notensystem verwirrte und er nicht einsehen wollte, warum die Zahl kleiner wurde, wenn die Leistungen stiegen. Trotz alldem tat mir Baba auch manchmal leid. Dann dachte ich daran, wie er sich für das Leben im Schuhkarton abrackerte, wie er erschöpft mit tiefen Augenringen vor dem Fernseher einschlief, wie er immer
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