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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Tagen deckten wir uns zusätzlich mit Handtüchern und Mänteln zu, an warmen Tagen erstickten wir fast, erdrückt von der Wärme unserer heißen Leiber. Die lieblos angebrachten grauen Gardinen verdeckten fast den gesamten Tag das einzige Fenster, sodass Licht und Sonne draußen blieben. Nein, das war keine Wohnung, also nannte ich den Ort, wo wir hausten, Schuhkarton . Als Baba das hörte, war er empört, ermahnte mich, nie wieder respektlos über unser Zuhause zu sprechen. Ich fragte, warum man einem Schuhkarton Respekt zollen müsse. Mit drohender Stimme herrschte er mich an, woher ich überhaupt so genau wüsste, wie eine richtige Wohnung aussehen würde, und ich antwortete: aus den amerikanischen Filmen.
    Da lachte mich Baba aus und meinte, ich sei ein Einfaltspinsel, weil ich an Märchen glaubte – wenn Baba lachte, dann nur über mich.
    Doch nicht alles an unserem Leben war schlecht. Es kann nie alles schlecht sein, meinte Mama. Gute Tage waren die am Monatsanfang, wenn Baba seinen Lohn von dem Sozialjob bei der Stadtreinigung ausgezahlt bekam. Es war die Sorte Job, vor dem sich alle Arbeitslosen mit faulen Ausreden und Attesten drückten, weil sie dort so viel verdienten wie ein indischer Teppichknüpfer. Am Anfang des Monats gab es Reis mit Hackbällchen und Fladenbrot. Mama tänzelte durchs Zimmer und bereitete in der Küche, die aus zwei an Steckdosen angeschlossenen Herdplatten, zwei zerkratzten Töpfen, vier Tellern und viermal Besteck bestand, das Essen zu. Am Anfang des Monats roch es bei uns herrlich nach Koriander, Minze und gebratenem Hackfleisch. Amani und ich fraßen wie ausgehungerte Tiere, bis unsere Bäuche ganz dick wurden und wir keinen Schritt mehr vor dem anderen tun konnten. Am Anfang des Monats gingen Amani und ich auf den Spielplatz, wippten, rutschten – glücklich –, weil wir wussten, am Ende des Tages könnten wir uns herrlich den Magen vollschlagen. Mitte des Monats wurde das Geld knapper, dann gab es nur noch Reis mit Fladenbrot. Ende des Monats war kein Geld mehr da, und es gab nur noch Fladenbrot, vielleicht mit etwas Käse. Amani und ich gingen nicht mehr auf den Spielplatz, denn mit leeren Mägen wippte und rutschte es sich viel schwieriger. Mama fragte verächtlich, wozu Baba überhaupt diesen idiotischen Job angenommen hatte – wenn er gar nicht arbeiten würde, bekämen wir Geld vom Amt. Baba hob verurteilend den Zeigefinger: »Wenn mir die Haare grau, die Beine müde werden, werde ich eher verhungern und sterben, als Almosen anzunehmen.« Mama klagte: »Warum musst du gleich die ganze Familie verhungern lassen?« und Baba zischte: »Ruhe jetzt!« Wenn es um die Arbeit ging, war Baba unerbittlich. Er meinte, Menschen, die von Sozialhilfe leben oder illegal arbeiten würden, müsste man umbringen; auf der faulen Haut liegen sei beschämend und eine Schande für jeden Menschen.
    Ein Leben ohne Arbeit wäre für Baba sinnlos gewesen. Dabei war es ihm ganz egal, was man tat, solange es anständig verdientes Geld war. Selbst wenn es sein Job gewesen wäre, den ganzen Tag aus dem Fenster zu schauen, hätte er das mit einer Leidenschaft getan, mit der ein Künstler ein Bild vollendete. Gute Tage waren auch die, an denen uns Mama amerikanische Filme schauen ließ oder Geschichten aus ihrer Kindheit erzählte und uns das Gefühl gab, eine intakte Familie zu sein. Die beste Zeit war aber, als Mama einen Job in der Wawi-Schokoladenfabrik bekam, denn von da an gab es gratis Schokoladenweihnachtsmänner zu jeder Jahreszeit. Selbst wenn es an allem fehlte, hatten wir immer genug Schokolade im Schrank. Für das Gefühl, eine intakte Familie zu sein, reichte es manchmal auch, einen roten Plastikkorb in eine Badewanne umzufunktionieren, in der ich zwar nur im Schneidersitz Platz fand, aber die unbeschwerten Minuten im Schaum und warmen Wasser reichten aus, um mich fröhlich zu stimmen. Das mochte ich am Kindsein – man konnte sich für alles begeistern. Danach trocknete Mama die Badewanne Schrägstrich Einkaufskorb ab, und anstelle meines blanken Hinterns fanden dort Eier und Brot ihren Platz. Schön waren auch die Sperrmülltage, wenn die gesamte Nachbarschaft Krimskrams und altes Zeug vor die Tür stellte und Amani und ich auf die Jagd gehen konnten. Wir fanden Kuscheltiere ohne Augen, Barbiepuppen ohne Arme, einmal einen fast neuen Schreibtisch aus Holz, Stühle mit drei Beinen und Schuhe ohne Schnürsenkel. Wir brachten die Schätze heimlich mit nach Hause, denn Baba sagte,
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