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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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Menschen, die der Kapitalismus verkrüppelt, aufgegeben, doch er mußte sich eine zumindest nicht-skeptische Anthropologie bewahren. Ohne die Gewißheit, daß der als Geisel der verdinglichten Sachenwelt gehaltene Mensch zu einer seiner selbst und seiner Potenzen bewußten und würdigen Existenz fähig ist, wäre das Marxsche Projekt undenkbar – das des Theoretikers Marx, ganz zu schweigen von dem des Revolutionärs Marx. Und wir dürfen uns von dem bisweilen trockenökonomischen, |39| kühl-analytischen, oft lakonisch-satirischen, dann wieder philosophisch-abstrakten Ton, den Marx in den »Grundrissen« oder im »Kapital« anschlägt, nicht täuschen lassen: Auch der alte, reife Marx beschreibt nicht nur, wie die kapitalistische Maschinerie als »beseeltes Ungeheuer« 19 , das nichts weiter ist als »vergegenständ lichte Arbeit«, das »Kommando über die Lebendige« (Arbeit) übernimmt 20 , und den tätigen Menschen sich als »lebendige(s) Anhängsel einverleibt« (MEW 23, S. 445) – er schreibt mit Wut und Besessenheit gegen dieses Monstrum an, das ihn fasziniert und das er zerstören will, weil es Menschen zu Unwesen degradiert.

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    |57| Die Anti-Utopie Oder: Im ehernen Gehäuse der historischen Notwendigkeit
    Der historische Materialismus – Karl Marx’ Geschichtsphilosophie
    Das Manifest – ein Triumph des Willens über die Soziologie? Marx – ein Autor, der von einem Ethos, in letzter Instanz von einem Gefühl angetrieben wurde, von der moralischen Motivation, Unrecht und Ungerechtigkeit zu bekämpfen? Heißt so zu formulieren nicht, dem Kerngedanken Marxens Gewalt antun? Und heißt das nicht vor allem heute: Marx vollends zu erledigen? Denn nichts scheint heutzutage so niedrig im Kurs zu stehen wie moralische Motive.
    Selbst jene, die sich über die Ungerechtigkeiten, das schroffe Nebeneinander von Reichtum und Elend empören, reagieren unwirsch, nennt man sie »Moralisten«. Dabei sah etwa die Hamburger »Zeit« nach den Unruhen von Seattle, Davos, Genua und Florenz schon die »Ge burtsstunde einer neuen linksradikalen Bewegung«, die Pariser »Libération« feierte die »Generation soziale Gerechtigkeit«. Und Daniel Cohn-Bendit, der ewige Rebell, mahnte seine Grünen, sie dürften den Anschluß an »die moralische Generation« nicht verlieren.
    Da war es wieder, das Moralisierer-Wort: Das Hauptmotiv der neuen Rebellengeneration »ist die moralische Empörung über Bilder von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen, oder allgemeiner: über soziale Ungerechtigkeit«, |58| urteilt auch Dieter Rucht, Professor am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung mit Arbeitsschwerpunkt soziale Protestbewegungen.
    Selbst bei den Wohlmeinendsten klingt eine Art altväterlicher Paternalismus an. Wer anderen Moralismus attestiert, der tut das meist, um sie ein wenig abzutun. Wessen Handeln in einer Moral gründet, der ist ein zweifelhafter Zeitgenosse. Und es gehört ohne Zweifel zu den eigenartigsten Eigenheiten unserer Zeit, daß moralische Beweggründe für Engagement oder einfach auch für alltägliches Verhalten nicht gerade hoch im Kurs stehen, und zwar nicht nur bei den Freunden der Unmoral, sondern auch bei den Freunden der Moral. Denn die moralisch Empörten pflegen den Hinweis, sie seien moralisch empört, mit echter Empörung zurückzuweisen, so wie die Gegner der moralisch Empörten meist glauben, mit diesem Hinweis sei es schon getan, um die Moralisten abzufertigen. Nur selten kommt die Frage auf: Was ist eigentlich so schlecht an moralischem Handeln?
    Daß moralische Motive und ethisches Handeln so sehr mit drögem Moralismus, schlichter Weltfremdheit und flachem Gutmenschentum verbunden sind, läßt sich nicht nur auf die Erfolge der Kapitalismusfreunde und abgeklärter Zyniker im Meinungskampf zurückführen. Ohne Zweifel hat die kalte Schneidigkeit der heute so allgegenwärtigen radikalliberalen Wirtschaftsdoktrin ihren Teil zur Verächtlichmachung der Moral beigetragen. Daß sie zu Schlüssen kam, die der Laie nicht erwartet hätte – das wußte schon der große britische Ökonom John Maynard Keynes –, »erhöhte vermutlich ihr intellektuelles Prestige« – etwa, daß jener, der nur seinen Eigennutz |59| im Blick hat, ein Gemeinwesen besser vorwärts bringe als der, der stets Gutes versuche und nur das Schlechte schaffe. Daß diese Lehre, »in die Praxis übersetzt, spartanisch und oft widerwärtig war, verlieh ihr einen Anspruch von Tugend. Daß sich auf ihr ein gewaltiger,
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