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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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prägendste Zeit im Leben des Mannes in der zweiten Hälfte seiner Zwanziger. Das erste Dokument, eine Sammlung von elf knappen Notizen »ad Feuerbach«, sollte Jahrzehnte danach unter dem Namen »Thesen über Feuerbach« in die Weltgeschichte der Philosophie eingehen. In dieser Auseinandersetzung mit dem avanciertesten der junghegelianischen Theoretiker formuliert Marx nicht nur sein Prinzip der »Philosophie der Praxis«, die uns hier vorerst nicht kümmert, sondern er schreibt auch explizit: »Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (MEAW 1, S. 235)
    Dies ist nun eine recht deutliche Absage an die Vorstellung von einem irgendwie gegebenen Menschtum. Vor allem in seiner polemischen Schrift, in der er auf mehreren hundert Seiten seine linkshegelianischen Zeitgenossen Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner und |34| andere aufs Korn nimmt, spießt Marx dann die metaphysischen »Hirngespinste wie … ›der Mensch‹« (MEAW 1, S. 235) auf, zieht mit viel Spott darüber her, »was sich die Philosophen als ›Substanz‹ und ›Wesen des Menschen‹ vorgestellt … haben« (MEAW 1, S. 232). Da der Mensch sich, das heißt seine Anlagen, immer in Interaktion mit anderen Menschen produziert, ist alles Räsonieren über das Eigentliche, das ursprüngliche Wesen des Menschen Unsinn. Die Individuen machen
» einander
, physisch und geistig« (MEAW 1, S. 230), gehen Verhältnisse ein, die wieder auf sie zurückwirken. Der
Mensch
ist immer schon: Geschichte
und
Gesellschaft. Es zeige sich, führt Marx aus, »daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«.
    Das ist nun eine harte Nuß: Wie kann der Mensch sich seinem Wesen entfremden, wenn ein solches Wesen nicht existiert? In jedem Fall läßt sich so nicht recht ein gleichsam archaisches, romantisches Menschtum denken, dessen Wiederaneignung, dessen Befreiung aus den Ketten der dinghaften Welt Ziel und Ansporn der Revolte sein kann. Aus solcher Perspektive ist dann die Vorstellung eines »menschlichen Wesens« gewissermaßen ein theologisches Schmuggelgut. Wenn aber kein positives Modell des Menschtums außerhalb der gegebenen Verhältnisse existiert, welches den Verhältnissen entgegengestellt werden kann, dann bleiben zwei Möglichkeiten: die Kritik am Bestehenden aufzugeben – oder die Kritik in die Verhältnisse gleichsam hineinzuverlegen. Letzteres ist es, was Marx den Rest seines Lebens getan hat.
    Doch bleiben wir vorerst beim Begriff der Entfremdung und bei Marx’ Auseinandersetzung mit dem Begriff |35| des menschlichen Wesens, hat doch diese bemerkenswerte Wende Generationen von Marx-Lesern, -Anhängern und -Exegeten beschäftigt. Zunächst ist dieser seltsame Widerspruch eine Herausforderung für Doktrinäre aller Art gewesen: Denn wenn das Werk eines Mannes zu einem dogmatischen Gebäude ausgebaut werden soll, dann ist kein Platz für Ambivalenzen. So haben sich vor allem die kommunistischen Doktrinäre damit beholfen, das Werk in das des jungen und das des reifen Marx zu scheiden. Dazu war hilfreich, daß die sogenannten »Früh schriften « erst Anfang der dreißiger Jahre veröffentlicht wurden, als die stalinistische Herrschaft über die Sowjetunion und die kommunistische Weltbewegung bereits befestigt war. Längst war da die Sentenz vom Menschen als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« schon ins Alltagswissen kommunistischer – und auch sozialdemokratischer – Gesellschaftsplaner hinabgesunken. Indem sie die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, könnten sie die Menschen ändern und so einen »neuen Menschen« schaffen, glaubten sie. Für sie war der Mensch, knapp und schroff gesagt, ein leerer Datenträger, der von den Verhältnissen beschrieben würde. Ethisch über das ›Wesen des Menschen‹ zu räsonieren wäre aus solcher Perspektive ebenso blauäugig, als würde man, um es mit den Worten unserer Zeit zu sagen, über das ›Wesen der CD‹ nachdenken – anstatt über die konkreten Musikstücke, die auf ihr gespeichert sind.
    Neue Verhältnisse werden also einen neuen Menschen schaffen – so diese Auffassung –, wobei nebensächlich ist, mit welchen Methoden man diese neuen Verhältnisse schafft. Weil freilich schon zu dieser Zeit recht deutlich |36| sichtbar war, daß das kommunistische Experiment in der Sowjetunion nicht wirklich dazu führte, daß sich aus dem
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