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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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Unternehmensberatung. Der Arbeitnehmer soll nicht nur für Lohn oder Gehalt klar ausgehandelte Tätigkeiten verrichten, sondern Gefühle, Phantasie, Ideale investieren – sich selbst als allseitig entwickeltes Individuum, und das am besten rund um die Uhr. Mark Siemons verdanken wir viele dieser Einsichten in das »Wesen des neuen Angestellten«. 11
    Das Ergebnis dieser Wende ist eine doppelte Paradoxie. Selbstverwirklichung wird einerseits endgültig zum allseits postulierten Prinzip; das Bedürfnis nach Verwirklichung im Berufsleben gerät zu einem allgemein erstrebten Ziel – einem Ziel, das andererseits nur in den seltensten Fällen erreicht werden kann. Um so schmerzhafter spürbar wird die Diskrepanz. Zivilisationskrankheiten wie Depressionen, alterstypische Melancholien wie die Midlife-Crisis wachsen aus diesem Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wie immer man es drehen und wenden mag, die Menschen haben eine Vorstellung davon, was ihnen als |26| menschlichen Wesen zusteht, was ein gelungenes menschliches Leben ausmacht: erfüllte Beziehungen, eine sinnvolle Tätigkeit, die ihre Potentiale fordert und fördert, ein kooperatives Verhältnis mit ihren Kollegen, Ansporn und Anerkennung durch ihre Mitmenschen. Sie fragen sich gar nicht viel, was das Wesen des Menschen ist. Sie haben davon eine Art spontanes Wissen.

    Schon vor etwas mehr als eineinhalb Jahrhunderten saß ein junger Mann im Pariser Exil und hing ähnlichen Vorstellungen an. Sich mit den Begriffen der Hegelschen Philosophie auseinandersetzend, versuchte er schreibend in das Zentrum dieser offenen Frage nach dem Wesen des Menschen einzudringen. Dieser Mann hieß Karl Marx, war damals noch nicht einmal 26 Jahre alt – und hatte dennoch schon ein bewegtes Vorleben in den Zirkeln erneuerungswütiger Intellektueller und als streitbarer radikaldemokratischer Publizist der »Rheinischen Zeitung« hinter sich. Ein genialer junger Mann, frisch verheiratet, beseelt von jenem Beginnergefühl, das seiner Zeit – dem Vormärz, in dem sich die künftigen Revolutionen schon ankündigten – ihr Gepräge gegeben hatte. Später sollten die Historiker diese Jahre die »Epoche der Doppelrevolution« nennen, in der die industrielle Revolution und die demokratischen Aspirationen kräftig zur Macht drängten.
    Daß Bilder ihre eigene Realität produzieren, ist für aufgeklärte Geister, die in moderner Medienkritik geschult sind, ein bekanntes Phänomen. Unsere Vorstellung von Marx ist geprägt von dem berühmten Foto des alten Mannes – hohe weiße Stirn, enge Augen, buschige Brauen, |27| graue Mähne, weißer Rauschebart, soigniert, gesetzt, und doch wuchtig. Dem steht kein Bild vom jungen Marx gegenüber. Marx in seinen Zwanzigern haben wir uns als etwas hektischen Heißsporn vorzustellen, dichte, schwarze Mähne am Kopf, dunkler Teint – »Mohr« sollten ihn seine Kinder später rufen –, »die Hände mit Haaren bedeckt«, wie ein Zeitgenosse schrieb, zu Übermut neigend, streitsüchtig, blitzgescheit und vor allem: ausgestattet mit einem seltenen literarischen Talent. Marx war von »verlet zender , unerträglicher Arroganz des Auftretens« und redete mit »metallischer« Stimme. Er stieß ein wenig mit der Zunge an und sprach zu jener Zeit »noch den unverfälschten rheinischen Dialekt«. Wenn dieser junge Mann, so berichtete ein halbes Jahrhundert danach der spätere deutsche Sozialistenführer Wilhelm Liebknecht, von der »Befreiung der Arbeiter« sprach, dann klang es für ein in diesem Idiom ungeübtes Ohr wie »Befreiung der Achtblättler« 12 .
    Einen erstaunlich weiten Weg hatte dieser junge Mann in gerade zehn Jahren zurückgelegt. Geboren 1818 in Trier, als Sohn des Rechtsanwaltes Heinrich Marx, der erst wenige Jahre vor Karls Geburt vom Judentum zum Protestantismus übergetreten war, wuchs Marx in einem seltsamen Traditionsmix aus Talmud und Thora (sein Urgroßvater, sein Großvater und einer seiner Onkel waren Rabbiner in Trier) auf, in einer Spannung aus religiöser Unterweisung und Pflege der Überlieferung auf der einen Seite und den modernen, von der Französischen Revolution inspirierten Emanzipationshoffnungen, einem radikalen Liberalismus auf der anderen Seite. Mit siebzehn Jahren hatte er sich an der Universität Bonn zum Jurastudium |28| eingeschrieben, ein Jahr später war er nach Berlin gewechselt, wo er in den Bann der radikalen linkshegelianischen Intelligenz geriet. Marx sattelte auf Philosophie um, las Tag und Nacht, sofern er
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