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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten
Autoren: Carre
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eisernen Sparens fast vollständig abbezahlt hatte, konnte er nur ein paarmal durchatmen, ehe die Türklingel ihren Dreiklang ertönen ließ. Und als er wieder nach unten ging, stand auf der Türschwelle der klapprige Junge mit seiner Satteltasche über der Schulter. Seine Augen loderten wild von der Anstrengung des Laufens, über sein Gesicht strömte der Schweiß wie ein Sommerregen, und in seiner zitternden Hand hielt er ein Stück braune Pappe, auf der in türkischer Sprache stand: Ich bin ein muslimischer Medizinstudent. Ich bin müde und ich möchte bei Ihnen wohnen. Issa. Und wie um die Botschaft noch zu unterstreichen, hing um sein Handgelenk ein schmales Goldkettchen, von dem ein winziger goldener Koran baumelte.
    Aber Melik stank die Sache inzwischen gewaltig. Gut, er war vielleicht nicht die größte Leuchte, die seine Schule jemals hervorgebracht hatte – aber sollte er sich deshalb schuldig und minderwertig fühlen, nur weil ein Bettler mit Starallüren sich an seine Fersen heftete und ihn belästigte? Seit sein Vater tot war, fiel Melik die stolze Rolle des Hausherrn und Beschützers seiner Mutter zu, und zum krönenden Beweis hatte er weiterverfolgt, was sein Vater nicht mehr hatte zu Ende bringen können: als türkischer Einwanderer in der zweiten Generation hatte er gemeinsam mit seiner Mutter den langen, steinigen Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft angetreten, auf dem jede Facette ihres Lebenswandels unter die Lupe genommen werden würde und acht Jahre untadeligen Betragens die erste Bedingung waren. Das letzte, was seine Mutter oder er brauchen konnten, war ein geisteskranker Penner, der sich für einen Medizinstudenten hielt und an ihrer Haustür bettelte.
    »Mach, daß du wegkommst«, befahl er dem Jungen barsch auf türkisch und pflanzte sich breit in die Tür. »Hau ab. Hör auf, uns hinterherzulaufen, und laß dich hier nicht mehr blicken.«
    Die einzige Reaktion auf dem ausgemergelten Gesicht war ein Zucken, als hätte jemand ihn geschlagen. Melik wiederholte seine Aufforderung auf deutsch. Aber als er die Tür zuknallen wollte, stand hinter ihm auf der Treppe Leyla und sah über seine Schulter auf den Jungen und auf das Pappschild, das unkontrolliert in seiner Hand zitterte.
    Und er sah, daß sie schon Tränen des Mitleids in den Augen hatte.
    * * *
    Der Sonntag verging, und am Montag erfand Melik eine Ausrede, um nicht in der Gemüsehandlung seines Cousins in Wellingsbüttel antreten zu müssen. Er wolle daheim bleiben und für die Boxmeisterschaften trainieren, sagte er seiner Mutter. Er müsse in den Kraftraum und ins Trainingsbad. Aber in Wirklichkeit war es ihm einfach nicht geheuer, sie mit einem baumlangen, größenwahnsinnigen Irren allein zu lassen, der, wenn er nicht betete oder die Wand anstarrte, im Haus herumstrich und liebevoll alle Gegenstände berührte, als erinnerte er sich noch von früher an sie. Melik ließ auf seine Mutter nichts kommen, aber seit dem Tod ihres Mannes verließ sie sich für seinen Geschmack etwas zu stark auf ihr Gefühl. All die Auserwählten, die sie einmal ins Herz geschlossen hatte, konnten für sie nichts verkehrt machen. Issas Sanftmut, seine Schüchternheit und das jähe Aufleuchten, das manchmal über seine Züge glitt, verschafften ihm sofortige Aufnahme in diesen illustren Kreis.
    Den Montag und auch den Dienstag verbrachte Issa mit wenig anderem als Schlafen, Beten und Baden. Um sich mit ihnen zu verständigen, sprach er ein gebrochenes, sonderbar kehlig klingendes Türkisch, schwallweise, verstohlen, als sei ihm das Reden verboten, und dabei doch, nach Meliks Meinung zumindest, auf eine schwer greifbare Art belehrend. Ansonsten aß er. Wohin um Himmels willen steckte er nur all die Essensmengen? Melik konnte in die Küche kommen, zu welcher Tageszeit er wollte: immer saß Issa da, den Kopfüber eine Schale mit Lammfleisch, Reis und Gemüse gebeugt, unermüdlich löffelnd, während seine Augen von einer Seite zur anderen huschten, damit ihm nur ja niemand einen Bissen wegnahm. Wenn er fertig war, wischte er die Schale mit einem Stück Brot aus und vertilgte es, worauf er mit einem gemurmelten »Gelobt sei Gott« und einem schwachen Grinsen auf dem Gesicht, als hätte er ein Geheimnis, das ihm für andere zu schade war, zur Spüle schlich und die Schale auswusch, ein Benehmen, das Leyla ihrem Sohn oder ihrem Mann nie und nimmer hätte durchgehen lassen. Die Küche war ihr Reich. Männer mußten draußen bleiben.
    »Und wann fängst du mit
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