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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten
Autoren: Carre
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deinem Medizinstudium an, Issa?« fragte Melik ihn beiläufig, so daß seine Mutter es hören konnte.
    »Mit Gottes Willen wird es bald sein. Ich muß kräftig sein. Ich darf nicht Bettler sein.«
    »Du brauchst eine Aufenthaltserlaubnis, das weißt du? Und einen Studentenausweis. Und dann noch ungefähr hunderttausend Euro für Wohnung und Essen. Und einen flotten kleinen Flitzer, um mit deinen Freundinnen spazierenzufahren.«
    »Gott ist barmherzig. Wenn ich nicht Bettler mehr bin, er gibt mir.«
    Solche Gelassenheit ging in Meliks Augen über bloßes Gottvertrauen hinaus.
    »Der Kerl wird langsam richtig teuer, Mutter«, beschwerte er sich, als er Issa sicher auf dem Speicher wußte. »Dieses pausenlose Gemampfe! Das Wasser, das der verbraucht!«
    »Nicht mehr als du, Melik.«
    »Schon, aber er ist ja nicht ich, oder? Wir wissen nicht, wer er ist.«
    »Issa ist unser Gast. Wenn er wieder bei Kräften ist, werden wir mit Allahs Hilfe seine Zukunft besprechen«, erwiderte seine Mutter pathetisch.
    Issas glücklose Versuche, sich unsichtbar zu machen, trugen nur zu Meliks Verstimmung bei. Ob er die enge Diele entlanghuschte oder sich anschickte, die Leiter zum Speicher hinaufzuklettern, wo Leyla ihm sein Bett bereitet hatte, immer legte er diese übertriebene Rücksichtnahme an den Tag – machte demütige Rehaugen und drückte sich flach gegen die Wand, um Melik oder Leyla vorbeizulassen.
    »Issa war im Gefängnis«, verkündete Leyla eines Morgens zufrieden.
    Melik war entgeistert. »Weißt du das sicher? Der Mann ist ein Knacki? Weiß die Polizei davon? Hat er es dir erzählt?«
    »Er hat gesagt, im Gefängnis in Istanbul gab es immer nur ein Stück Brot und eine Schale Reis am Tag«, sagte Leyla, und bevor Melik noch mehr einwenden konnte, schob sie einen Lieblingsspruch ihres Mannes hinterher: »Wir ehren unseren Gast und stehen all denen bei, die in Not sind. Kein Werk der Barmherzigkeit wird im Jenseits unbelohnt bleiben«, deklamierte sie. »War nicht auch dein Vater in der Türkei im Gefängnis, Melik? Nicht jeder, der ins Gefängnis kommt, ist ein Verbrecher. Für Menschen wie Issa und deinen Vater ist das Gefängnis eine Auszeichnung.«
    Aber Melik wußte, daß sie noch andere Gedanken in ihrem Herzen bewegte, mit denen sie nicht so ohne weiteres herausrücken würde. Allah hatte ihre Gebete erhört. Er hatte ihr einen zweiten Sohn geschickt, als Ersatz für den Ehemann, der ihr genommen worden war. Die Tatsache, daß er ein illegaler, halbirrer Knastbruder mit krankhaft übersteigertem Selbstwertgefühl war, schien sie nur am Rande zu interessieren.
    * * *
    Er war aus Tschetschenien.
    Soviel konnten sie am dritten Abend feststellen, als Leyla sie alle beide überraschte, indem sie ein paar Sätze auf tschetschenisch in den Raum warf, etwas, was Melik sein Lebtag nicht von ihr gehört hatte. Issas abgehärmtes Gesicht erstrahlte in einem verblüfften Lächeln, das ebenso schnell wieder verschwand, und dann verstummte er vollends. Dabei war die Erklärung für Leylas Sprachkünste denkbar harmlos. Als kleines Mädchen in ihrem türkischen Dorf hatte sie mit tschetschenischen Kindern gespielt und ein paar Brocken ihrer Sprache aufgeschnappt. Sie hatte gleich den Verdacht gehabt, daß Issa Tschetschene sein müsse, aber nichts gesagt, denn mit den Tschetschenen sei das so eine Sache.
    Er war aus Tschetschenien, und seine Mutter war tot, und alles, was ihm von ihr geblieben war, war das goldene Kettchen mit dem Koran daran, das sie ihm umgelegt hatte, bevor sie starb. Aber wann und wie sie gestorben war und wie alt er gewesen war, als er das Kettchen geerbt hatte, waren Fragen, die er entweder nicht verstand oder nicht verstehen wollte.
    »Die Tschetschenen werden von allen gehaßt«, erklärte Leyla Melik, während Issa gesenkten Hauptes seinen Teller leer schaufelte. »Aber nicht von uns. Hörst du, Melik?«
    »Natürlich hör ich dich, Mutter.«
    »Alle außer uns verfolgen die Tschetschenen«, fuhr sie fort. »In Rußland und überall sonst auf der Welt. Und nicht nur die Tschetschenen, sondern russische Muslime ganz gleich wo. Putin verfolgt sie, und Bush bestärkt ihn darin noch. Solange Putin das Krieg gegen den Terror nennt, kann er mit den Tschetschenen machen, was er will, und niemand hindert ihn daran. Hab ich recht, Issa?«
    Aber Issas kurzer Glücksmoment war längst vorbei. Über seine hohlen Wangen hatten sich wieder die alten Schatten gelegt, in seine Rehaugen war das leidvolle Glänzen
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