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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten
Autoren: Carre
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zurückgekehrt, und eine abgezehrte Hand schloß sich schützend um das Armband. Sag was, verdammt, fuhr Melik ihn wütend an, aber nur im Geiste. Wenn mich jemand plötzlich auf türkisch anredet, dann antworte ich auch auf türkisch, jeder anständige Mensch tut das! Also sag meiner Mutter gefälligst etwas Nettes auf tschetschenisch – oder bist du zu beschäftigt damit, dir auf ihre Kosten den Wanst vollzuschlagen?
    Auch andere Sorgen plagten ihn. Bei einer Sicherheitsüberprüfung des Speichers, den Issa inzwischen als sein Hoheitsgebiet ansah – einer höchst verstohlenen Sicherheitsüberprüfung, während Issa unten in der Küche mit seiner Mutter plauderte wie üblich –, hatte er einige entlarvende Entdeckungen gemacht: gehortete Essensreste, als würde Issa die Flucht planen, eine kleine goldgerahmte Porträtaufnahme von Meliks Verlobter Schwester mit achtzehn, die er aus Leylas heißgeliebter Sammlung von Familienphotos im Wohnzimmer entwendet hatte, und die Lupe seines Vaters, die auf den Hamburger Gelben Seiten lag, auf einer Doppelseite, die die zahlreichen Banken der Stadt auflistete.
    »Gott hat deine Schwester mit einem lieblichen Lächeln gesegnet«, entgegnete Leyla gelassen auf Meliks aufgebrachte Meldung, daß sie es nicht nur mit einem illegalen Einwanderer zu tun hätten, sondern auch noch mit einem Perversen. »Ihr Lächeln wird Issa ins Herz scheinen.«
    * * *
    Issa war also aus Tschetschenien, ob er die Sprache beherrschte oder nicht. Seine Eltern waren beide tot – aber anderweitig nach ihnen befragt, war er um eine Antwort ebenso verlegen wie seine Gastgeber, zog die Brauen hoch und richtete milde Blicke in die Zimmerecke. Er war staatenlos, obdachlos, ein Exhäftling und illegaler Einwanderer, aber Allah in seiner Güte würde die Mittel bereitstellen, um ihn Medizin studieren zu lassen, sobald er kein Bettler mehr war.
    Nun, Melik hatte selber einmal davon geträumt, Arzt zu werden; er hatte seinen Vater und seine Onkel sogar darauf eingeschworen, zusammenzulegen und ihm das Studium zu finanzieren, ein Unterfangen, das der Familie echte Opfer abverlangt hätte. Und wenn er nur ein bißchen mehr für die Schule gelernt und sich ein bißchen weniger um seinen Sport gekümmert hätte, dann hätte er jetzt im zweiten Semester sein können, ein Medizinstudent, der sich die Ohren heiß büffelte, um seiner Familie Ehre zu machen. Nicht unverständlich also, daß Issas nonchalantes Vertrauen auf Allahs Hilfe bei einem Unternehmen, das ihm selbst so grandios mißlungen war, Melik dazu trieb, Leylas Warnungen in den Wind zu schlagen und seinen unerwünschten Gast ins Kreuzverhör zu nehmen, so geschickt er das in seiner Gutmütigkeit vermochte.
    Er hatte das Haus für sich. Leyla war zum Einkaufen gegangen und würde erst am Nachmittag zurückkommen.
    »Und du hast also schon Medizin studiert?« begann er, wobei er sich neben Issa setzte, um eine Vertrauensbasis zu schaffen, und kam sich dabei äußerst professionell vor. »Nicht schlecht.«
    »Ich war in Krankenhäusern, Herr.«
    »Als Student?«
    »Ich war krank, Herr.«
    Warum »Herr«? War das auch ein Überbleibsel aus dem Gefängnis?
    »Aber Patient sein ist nicht dasselbe wie Arzt sein, oder? Ein Arzt muß wissen, was den Leuten fehlt. Als Patient sitzt du nur da und wartest, daß der Arzt dir hilft.«
    Issa unterzog diese Aussage der umständlichen Betrachtung, der er Aussagen gleich welcher Größenordnung unterzog: griente ins Leere, kratzte sich mit den spinnendünnen Fingern den Bart und lächelte schließlich strahlend, ohne eine Antwort zu geben.
    »Wie alt bist du?« fragte Melik, mit etwas weniger Raffinesse als geplant.
    »Dreiundzwanzig, Herr.« Aber auch das erst nach einer ausgedehnten Denkpause.
    »Also schon ziemlich alt. Selbst wenn du deine Aufenthaltsgenehmigung schon morgen in der Tasche hättest, wärst du fünfunddreißig oder so, bis du fertiger Arzt bist. Und Deutsch mußt du ja auch noch lernen. Und dafür zahlen.«
    »Und ich werde heiraten gute Frau, so Gott will, und Kinder haben. Zwei Knaben, zwei Mädchen.«
    »Aber nicht meine Schwester. Meine Schwester heiratet nämlich in einem Monat.«
    »So Gott will, sie wird haben viel Söhne, Herr.«
    Melik überlegte einen Moment und unternahm dann den nächsten Vorstoß. »Wie bist du eigentlich nach Hamburg gekommen?« fragte er.
    »Es ist irrelevant.«
    Irrelevant ? Wie kam er auf so ein Wort? Und noch dazu auf türkisch?
    »Wußtest du nicht, daß es Asylanten
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