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Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Echo meiner Schritte hören, doch ich hätte schwören können, eine Handbreit über dem Boden zu wandeln.

4
    I ch glaube, in meinem ganzen Leben war ich nie so pünktlich gewesen. Die Stadt steckte noch im Pyjama, als ich über die Plaza de Sarriá ging. Während es zur Neun-Uhr-Messe läutete, flog bei meinem Vorübergehen ein Schwarm Tauben auf. Eine Sonne wie auf einem Kalenderbild entzündete die Spuren nächtlichen Nieselregens. Kafka war mich am Anfang der Straße, die zum Haus führte, abholen gekommen. Eine Gruppe Spatzen hielt sich auf einer Mauer in weisem Abstand. Der Kater beobachtete sie mit geübter professioneller Gleichgültigkeit.
    »Morgen, Kafka. Haben wir heute schon einen Mord begangen?«
    Er antwortete mit einem Schnurren und führte mich wie ein phlegmatischer Butler durch den Garten zum Brunnen. Auf dessen Rand erkannte ich Marinas Gestalt in einem elfenbeinfarbenen, schulterfreien Kleid. Mit einer Füllfeder schrieb sie in ein ledergebundenes Buch. Ihr Gesicht verriet große Konzentration, und sie nahm mich überhaupt nicht wahr. Ihr Geist schien in einer anderen Welt zu weilen, so dass ich sie einige Augenblicke verzückt betrachten konnte. Ich hatte keinen Zweifel, dass diese Schlüsselbeine von Leonardo da Vinci entworfen worden waren, eine andere Erklärung war nicht möglich. Eifersüchtig brach Kafka mit einem Miauen die Magie. Der Füller hielt brüsk inne, Marina schaute auf und mir in die Augen und klappte das Buch zu.
    »Bereit?«
     
     
    Sie führte mich mit unbekanntem Ziel und geheimnisvollem Lächeln durch die Straßen von Sarriá.
    »Wohin gehen wir?«, fragte ich nach einigen Minuten.
    »Nur Geduld. Du wirst es schon sehen.«
    Ich folgte ihr gehorsam, obwohl ich argwöhnte, einem im Moment noch unverständlichen Scherz aufzusitzen. Wir gingen zum Paseo de la Bonanova hinunter und von dort Richtung San Gervasio. Vor dem schwarzen Loch von Víctors Kneipe wärmte eine Gruppe junger Schnösel mit einem Bier in der Hand und hinter Sonnenbrillen verschanzt lässig die Sättel ihrer Vespas. Als wir vorübergingen, sahen sich einige von ihnen gemüßigt, ihre Ray Bans auf halbmast zu setzen, um Marina mit Röntgenblick zu erfassen. Blei sollt ihr fressen, dachte ich.
    Dann bog Marina rechts in die Calle Dr. Roux ein. Wir gingen zwei Häuserblocks hinunter bis zu einem schmalen unasphaltierten Pfad, der bei der Nummer 112 begann. Noch immer stand das rätselhafte Lächeln auf ihren Lippen.
    »Ist es hier?«, fragte ich gespannt.
    Der Pfad schien zu Ende zu sein. Marina ging aber einfach weiter zu einem Weg, der zu einem zypressengesäumten Säulengang hinaufführte. Auf der anderen Seite lag unter bläulichen Schatten ein verhexter Garten voller Grabsteine, Kreuze und moosiger Mausoleen.
     
     
    Der alte Friedhof von Sarriá ist einer der verstecktesten Winkel Barcelonas. Sucht man ihn auf einem Stadtplan, dann findet man ihn nicht. Fragt man Anwohner oder Taxifahrer, wie man hingelangt, dann wissen sie es ziemlich sicher nicht, obwohl alle schon von ihm gehört haben. Und wenn jemand es vielleicht wagt, ihn auf eigene Faust zu suchen, verirrt er sich höchstwahrscheinlich. Die wenigen, die das Geheimnis seiner Lage kennen, vermuten, dass dieser alte Friedhof eigentlich nichts weiter ist als eine Insel aus der Vergangenheit, die nach Lust und Laune auftaucht und wieder verschwindet.
    Hierher führte mich Marina an diesem Septembersonntag, um mir ein Geheimnis zu offenbaren, das mich beinahe mit derselben Spannung erfüllte, wie ihre ganze Person es tat. Gemäß ihren Anweisungen setzten wir uns in eine etwas erhöhte verborgene Ecke im nördlichen Teil des Geländes. Ruhig saßen wir da und betrachteten Gräber und verwelkte Blumen. Marina sagte keinen Ton, und nach einigen Minuten wurde ich langsam ungeduldig. Das einzige Geheimnis, das sich mir stellte, war, was zum Teufel wir hier zu suchen hatten.
    »Ziemlich tote Hose hier«, meinte ich ironisch.
    »Geduld ist die Mutter der Wissenschaft«, entgegnete sie.
    »Und die Patin des Wahnsinns. Hier gibt es weniger als nichts.«
    Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.
    »Da täuschst du dich. Hier liegen die Erinnerungen Hunderter von Menschen, ihre Leben, Gefühle, Illusionen, ihre Abwesenheit, die Träume, die sie nie verwirklichen konnten, die Enttäuschungen, Irrtümer und unerwiderten Lieben, die ihnen das Leben vergiftet haben. All das ist hier – auf immer festgehalten.«
    Ich schaute sie neugierig und
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