Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
und im Maul sahen wir die Zähne, die Tage zuvor einem Sperling den Garaus gemacht hatten. Ein ferner Blitz entzündete am Himmelsgewölbe einen Lichtfächer. JF und ich schauten uns an.
    Eine Viertelstunde später saßen wir auf einer Bank am Teich im Internatskreuzgang. Die Uhr steckte weiterhin in meiner Jacketttasche. Schwerer denn je.
     
     
    Dort blieb sie für den Rest der Woche, bis zum frühen Samstagmorgen. Kurz vor Tagesanbruch erwachte ich mit dem vagen Gefühl, von der im Grammophon gefangenen Stimme geträumt zu haben. Vor meinem Fenster ging Barcelona in scharlachroten Schatten auf, ein Wald aus Antennen und Zinnen. Ich sprang aus dem Bett und zog die vermaledeite Uhr, die mir in den letzten Tagen das Leben verhext hatte, unter dem Kopfkissen hervor. Wir sahen einander an. Schließlich wappnete ich mich mit der Entschlossenheit, zu der man sich nur durchringen kann, wenn es wahnwitzige Aufgaben zu lösen gilt, und nahm mir vor, dieser Situation ein Ende zu setzen. Ich würde die Uhr zurückbringen.
    Leise zog ich mich an und schlich auf Zehenspitzen durch den dunklen Gang des vierten Stocks. Bis zehn oder elf Uhr würde niemand mein Fehlen bemerken. Und da hoffte ich, wieder zurück zu sein.
    Draußen lagen die Straßen unter dem trüben Purpurmantel, der in Barcelona das Morgengrauen einhüllt. Ich ging bis zur Calle Margenat hinunter. Um mich herum erwachte Sarriá. Niedrige Wolken durchzogen das Viertel und fingen die ersten Lichter in einem goldenen Nimbus ein. In den Lücken des Dunstes zeichneten sich die Hausfassaden und das umherflatternde Laub ab.
    Ich fand die Straße sogleich wieder. Einen Augenblick blieb ich stehen, um die Stille, den seltsamen Frieden in mich aufzunehmen, der an diesem verlorenen Ort der Stadt herrschte. Allmählich spürte ich, dass die Welt zusammen mit der Uhr in meiner Tasche stehengeblieben war, als ich hinter mir ein Geräusch vernahm.
    Ich drehte mich um und hatte eine Vision wie in einem Traum.

3
    L angsam löste sich ein Fahrrad aus dem Dunst. Ein junges Mädchen in einem weißen Kleid fuhr mir bergauf entgegen. Im durchscheinenden Licht des frühen Morgens waren durch die Baumwolle hindurch die Umrisse ihres Körpers zu erraten. Lange heublonde Haare verdeckten in Wellen ihr Gesicht. Reglos, wie ein halbgelähmter Idiot schaute ich zu, wie sie sich mir näherte. Zwei Meter vor mir blieb das Rad stehen. Meine Augen – oder meine Phantasie – erahnten die Konturen schlanker Beine, die sich auf den Boden stemmten. Mein Blick kletterte das Kleid hoch, das einem Bild von Sorolla zu entstammen schien, um dann bei den Augen innezuhalten, so tief grau, dass man hätte hineinfallen können. Sie ruhten mit sarkastischem Blick auf mir.
    Ich lächelte und setzte das dümmlichste Gesicht auf, das ich zustande brachte.
    »Du musst der mit der Uhr sein«, sagte das junge Mädchen in einem Ton, der zu ihrem starken Blick passte.
    Ich schätzte sie auf mein Alter, vielleicht ein Jahr älter. Das Alter einer Frau zu erraten war für mich eine Kunst oder eine Wissenschaft, nie ein bloßer Zeitvertreib. Ihre Haut war so blass wie das Kleid.
    »Wohnst du hier?«, stotterte ich und deutete auf das Gittertor.
    Sie blinzelte nur. Ihre Augen durchbohrten mich mit solcher Wut, dass ich zwei Stunden brauchen würde, um zu merken, dass dies das bezauberndste Geschöpf war, das ich je im Leben gesehen hatte oder zu sehen hoffte. Aber das ist ein anderes Thema.
    »Und wer bist du, dass du das fragst?«
    »Vermutlich bin ich der mit der Uhr«, improvisierte ich. »Ich heiße Óscar. Óscar Drai. Ich bin gekommen, um sie zurückzubringen.«
    Bevor sie etwas sagen konnte, zog ich die Uhr aus der Tasche und reichte sie ihr. Einige Sekunden schaute mich das junge Mädchen weiter an, ehe sie sie ergriff. Dabei sah ich, dass ihre Hand so weiß wie Schnee war und dass sie am entsprechenden Finger einen goldenen Ring trug.
    »Sie war schon kaputt, als ich sie an mich nahm«, erklärte ich.
    »Sie ist seit fünfzehn Jahren kaputt«, murmelte sie, ohne mich anzusehen.
    Als sie schließlich aufschaute, musterte sie mich von oben bis unten wie ein altes Möbelstück. Etwas in ihren Augen sagte mir, dass sie mich nicht unbedingt für einen Dieb hielt, sondern vielmehr für einen Schwachsinnigen oder ganz gewöhnlichen Dummkopf. Das Idiotengesicht, das ich aufgesetzt hatte, mochte das Seinige dazu beitragen. Das Mädchen zog eine Braue in die Höhe, während sie rätselhaft lächelte und mir die Uhr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher