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Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Parfüm. Ich hörte, wie dieses sphärische Summen allmählich eine vom Klavier begleitete Arie ziselierte. Eine Frauenstimme – die schönste, die ich je gehört hatte.
    Die Melodie schien mir vertraut, dennoch konnte ich sie nicht benennen. Die Musik kam aus dem Haus. Ich folgte ihrer hypnotischen Spur. Feine Schichten dunstigen Lichts sickerten aus der angelehnten Tür einer verglasten Veranda. Auf einem Fensterbrett im ersten Stock erkannte ich die auf mich gehefteten Augen der Katze. Ich trat zu der erleuchteten Veranda, woher dieser unbeschreibliche Klang kam. Im Inneren flackerte der schwache Abglanz von hundert Kerzen. Der Schein ließ den goldenen Trichter eines alten Grammophons erkennen, auf dem sich eine Schallplatte drehte. Ich ertappte mich dabei, wie ich, ohne zu überlegen, in die Veranda eindrang, gefesselt von dieser im Grammophon gefangenen Sirene. Auf dem Tisch mit dem Apparat erkannte ich einen glänzenden runden Gegenstand, eine Taschenuhr. Ich nahm sie und untersuchte sie im Kerzenlicht. Die Zeiger auf dem zersplitterten Zifferblatt waren stehengeblieben. Sie schien aus Gold zu sein und so alt wie das Haus, in dem ich mich jetzt befand. Etwas weiter entfernt stand mit dem Rücken zu mir ein riesiger Sessel vor einem Kamin, über dem ich das Ölbild einer weißgekleideten Frau erkennen konnte. Ihre großen Augen, traurig und unergründlich, beherrschten den ganzen Raum.
    Unversehens zersprang der Zauber. Eine Gestalt erhob sich aus dem Sessel und wandte sich zu mir um. Weißes langes Haar und glühende Augen glänzten in der Dunkelheit. Ich sah zwei riesige weiße Hände, die sich mir entgegenstreckten. Von Panik gepackt, begann ich auf die Tür zuzulaufen, stieß dabei gegen das Grammophon und warf es um. Ich hörte, wie die Nadel über die Platte kratzte. Mit einem höllischen Klagelaut brach die himmlische Stimme. Ich stürzte in den Garten hinaus, während ich spürte, wie diese Hände mein Hemd berührten, und durchquerte ihn mit geflügelten Füßen und in meinen sämtlichen Poren brennender Angst. Keinen Augenblick blieb ich stehen. Ich lief und lief, ohne zurückzuschauen, bis mir ein stechender Schmerz die Seite durchbohrte und ich begriff, dass ich kaum noch atmen konnte. Da war ich schon mit kaltem Schweiß bedeckt, und in dreißig Meter Entfernung brannten die Lichter des Internats.
    Ich glitt durch eine stets unbewachte Pforte neben der Küche und schleppte mich in mein Zimmer hinauf. Die anderen Schüler mussten schon seit geraumer Weile im Speisesaal sitzen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, und nach und nach fand mein Herz zu seinem normalen Rhythmus zurück. Als ich eben ein wenig ruhiger geworden war, klopfte jemand an.
    »Óscar, Zeit, zum Abendessen runterzukommen«, sagte einer der Tutoren, ein rationalistischer Jesuit namens Seguí, der es hasste, den Polizisten zu spielen.
    »Sogleich, Pater«, antwortete ich. »Bloß eine Sekunde.«
    Eilig schlüpfte ich ins vorgeschriebene Jackett und knipste das Licht in meinem Zimmer aus. Durchs Fenster sah ich das Gespenst des Mondes hoch über Barcelona. Erst da bemerkte ich, dass ich noch immer die goldene Uhr in der Hand hielt.

2
    I n den darauffolgenden Tagen wurden die verflixte Uhr und ich unzertrennliche Gefährten. Ich nahm sie überallhin mit, sogar beim Schlafen lag sie unter meinem Kopfkissen, da ich befürchtete, jemand könnte sie finden und sich nach ihrer Herkunft erkundigen. Ich hätte die Antwort schuldig bleiben müssen. »Ja, weil du sie nicht gefunden, sondern hast mitgehen lassen«, flüsterte mir eine anklagende Stimme zu. »Der Fachausdruck lautet
Diebstahl und Hausfriedensbruch
.« Merkwürdigerweise ähnelte diese Stimme sehr derjenigen des Synchronsprechers von Perry Mason.
    Geduldig wartete ich jeden Abend, bis meine Kameraden eingeschlafen waren, um meinen Schatz zu studieren. Sobald Stille eingetreten war, betrachtete ich die Uhr aufmerksam im Licht einer Taschenlampe. Nicht alle Schuld der Welt hätte die Faszination schmälern können, die mir die Beute meines ersten Abenteuers im desorganisierten Verbrechen bescherte. Das Stück war schwer und schien aus massivem Gold gefertigt. Das zerbrochene Zifferblatt ließ einen harten Schlag oder Sturz erahnen, der das Uhrwerk zunichtegemacht und die Zeiger auf ewig zu sechs Uhr dreiundzwanzig verdammt haben musste. Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert:
    Für Germán, aus dem das Licht spricht.
    K.A.
    19-1-1964
     
    Ich dachte, die Uhr
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