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Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Der Polizist wartete das Ende des Gesprächs ab, gab mir Geld für ein Taxi und wünschte mir Glück. Ich fragte ihn, woher er wisse, dass ich nicht abermals verschwinde. Er schaute mich lange an. »Es verschwinden nur Leute, die auch irgendwo hingehen können«, antwortete er bloß. Er begleitete mich auf die Straße hinaus, wo er sich verabschiedete, ohne mich zu fragen, wo ich gesteckt habe. Ich sah ihn auf dem Paseo de Colón davongehen. Der Qualm seiner noch nicht angerauchten Zigarette folgte ihm wie ein treues Hündchen.
    An diesem Tag meißelte Gaudís Geist unmögliche Wolken auf ein Blau, das einen fast erblinden ließ. Mit einem Taxi fuhr ich zum Internat, wo mich vermutlich das Exekutionskommando erwartete.
    Vier Wochen lang bearbeiteten mich Lehrer und Schulpsychologen, mein Geheimnis preiszugeben. Ich log und bot jedem das, was er hören wollte oder akzeptieren konnte. Mit der Zeit gaben alle vor, diese Episode vergessen zu haben. Ich folgte ihrem Beispiel. Nie erzählte ich jemandem die Wahrheit.
    Damals wusste ich nicht, dass der Ozean der Zeit früher oder später die Erinnerungen anschwemmt, die wir in ihm versenkt haben. Fünfzehn Jahre später ist die Erinnerung an diesen Tag zu mir zurückgekehrt. Ich habe diesen jungen Burschen im Dunst des Francia-Bahnhofs umherirren sehen, und Marinas Name hat sich erneut wie eine frische Wunde entzündet.
    Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.

1
    E nde der siebziger Jahre war Barcelona eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, wo man allein beim Betreten eines Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückreisen konnte. In dieser magischen Stadt verliefen Zeit und Erinnerung, Geschichte und Fiktion wie Aquarelle im Regen. Dort war es, wo Kathedralen und aus Fabeln entsprungene Häuser im Klang von nicht mehr existierenden Straßen die Kulisse zu dieser Geschichte bildeten.
    Damals war ich ein fünfzehnjähriges Bürschchen, das in den Mauern eines Internats mit Heiligennamen an den Hängen der Straße nach Vallvidrera dahinschmachtete. In jenen Tagen sah das Viertel Sarriá noch wie ein kleines, an den Rändern einer modernistischen Metropolis gestrandetes Dorf aus. Meine Schule thronte am Ende einer Straße, die vom Paseo de la Bonanova aus bergan kletterte. Ihre monumentale Fassade hätte eher auf eine Burg als auf eine Lehranstalt schließen lassen. Die verwinkelte, lehmfarbene Silhouette war ein Puzzle aus Festungstürmen, Bögen und dunklen Flügeln.
    Die Schule stand inmitten einer Zitadelle von Gärten, Brunnen, verschlammten Teichen, Höfen und verhexten Pinienbeständen. Darum herum beherbergten düstere Gebäude von gespenstischem Dunst verschleierte Schwimmbecken, stilleverzauberte Turnhallen und verwunschene Kapellen, in denen im Widerschein der Altarkerzen Heiligenbilder lächelten. Das Haus wies vier Stockwerke auf, die beiden Kellergeschosse und ein abgesperrter Zwischenstock nicht eingerechnet, in dem die wenigen Geistlichen hausten, die noch als Lehrer tätig waren. Die Zimmer der Internatsschüler lagen längs höhlenartiger Gänge im vierten Stock. Diese endlosen Galerien ruhten in stetigem Halbdunkel und geisterhaftem Echo.
    Ich verbrachte meine Tage wachträumend in den Zimmern dieser ungeheuren Burg und wartete auf das Wunder, das sich täglich nachmittags um zwanzig nach fünf ereignete. Zu dieser magischen Stunde überzog die Sonne die hohen Fenster mit flüssigem Gold. Rasselnd verkündete die Glocke das Ende des Unterrichts, und wir hatten bis zum Abendessen im großen Speisesaal fast drei Stunden zu unserer freien Verfügung. Eigentlich sollte diese Zeit dem Studium und der geistigen Einkehr dienen. Ich kann mich nicht erinnern, mich auch nur an einem einzigen all meiner Tage an diesem Ort einer dieser edlen Aufgaben gewidmet zu haben.
    Das war mein Lieblingsmoment. Der Kontrolle am Ausgang ein Schnippchen schlagend, zog ich los, um die Stadt zu erkunden. Ich machte es mir zur Gewohnheit, genau zur Essensstunde wieder im Internat zu sein, nachdem ich in zunehmender Dunkelheit durch alte Straßen und Boulevards geschlendert war. Diese langen Spaziergänge bescherten mir ein Gefühl berauschender Freiheit. Meine Phantasie überflügelte die Häuser und stieg zum Himmel empor. Für einige Stunden verflüchtigten sich Barcelonas Straßen, das Internat und mein düsteres Zimmer im vierten Stock. Für einige Stunden war ich, mit
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