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Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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nur zwei Münzen in der Tasche, der glücklichste Mensch der Welt.
    Oft führte mich mein Weg durch die damals sogenannte Wildnis von Sarriá, die nichts weiter war als eine Andeutung von verlorenem Wald im Niemandsland. Die meisten Herrschaftsvillen, die seinerzeit das Gelände nördlich des Paseo de la Bonanova besiedelt hatten, standen noch da, wenn auch nur als Ruinen. Die Straßen ums Internat herum umrissen eine Geisterstadt. Efeuüberwucherte Mauern versiegelten den Zugang zu wilden Gärten, in denen sich monumentale, von Unkraut und Vernachlässigung heimgesuchte Paläste erhoben, in welchen die Erinnerung wie hartnäckiger Nebel zu schweben schien. Viele dieser Kästen warteten auf ihren Abbruch, andere waren jahrelang ausgeplündert worden. In einigen jedoch gab es noch Menschen.
    Sie waren die vergessenen Mitglieder heruntergekommener Geschlechter. Menschen, deren Name in der
Vanguardia
vier Spalten eingenommen hatte, als die Straßenbahnen noch den Argwohn moderner Erfindungen weckten. Geiseln ihrer moribunden Vergangenheit, die sich weigerten, das sinkende Schiff zu verlassen. Sie befürchteten, ihre Körper würden sich im Wind in Asche auflösen, wenn sie den Fuß auf Gebiet jenseits ihrer baufälligen Villen zu setzen wagten. Wie Gefangene welkten sie im Licht der Kandelaber dahin. Manchmal, wenn ich eiligen Schrittes an diesen verrosteten Gittertoren vorüberging, meinte ich, durch die verschossenen Fensterläden misstrauische Blicke zu spüren.
    Eines Nachmittags Ende September 1979 beschloss ich, mich aufs Geratewohl in eine dieser von Jugendstilpalästchen übersäten Prachtstraßen zu wagen, die ich bisher noch nie bemerkt hatte. Sie beschrieb eine Kurve, die vor einem gewöhnlichen Gittertor endete. Jenseits erstreckte sich das, was von einem alten, jahrzehntelange Vernachlässigung offenbarenden Garten übriggeblieben war. Inmitten der Vegetation sah man die dunklen Umrisse eines zweistöckigen Hauses, das sich hinter einem Brunnen mit Skulpturen erhob, die die Zeit mit Moos überzogen hatte.
    Langsam senkte sich die Dämmerung herab, und dieser Winkel kam mir etwas unheimlich vor, so von tödlicher Stille umgeben, in der nur die Brise eine wortlose Warnung vor sich hin murmelte. Mir wurde klar, dass ich in eine der »toten« Zonen des Viertels eingedrungen war. Ich dachte, am besten sei es, kehrtzumachen und zum Internat zurückzugehen. Ich war noch hin und her gerissen zwischen einer krankhaften Faszination durch diesen vergessenen Ort und dem gesunden Menschenverstand, als ich im Halbdunkel zwei gelbe Augen leuchten sah, die sich wie Dolche auf mich hefteten. Ich schluckte.
    Vor dem Gittertor zeichnete sich reglos das grausamtene Fell einer Katze ab. In ihrer Schnauze rang ein Spatz mit dem Tod. Um den Hals trug sie ein silbernes Glöckchen. Einige Sekunden musterte mich ihr Blick. Dann machte sie kehrt und glitt durch die Metallstäbe davon. Ich sah sie, den Sperling auf seiner letzten Reise davontragend, in der Unendlichkeit dieses verdammten Edens verschwinden.
    Der Anblick des hochmütigen, herausfordernden kleinen Raubtiers fesselte mich. Aufgrund seines glänzenden Fells und des Glöckchens vermutete ich, dass es sich um eine zahme Katze handelte. Vielleicht beherbergte dieses Haus mehr als nur die Geister eines verschwundenen Barcelonas. Ich trat näher und legte die Hände auf die Stäbe des Gittertors. Das Metall fühlte sich kalt an. Das letzte Licht der Abenddämmerung erhellte die Spur, die die Blutstropfen des Sperlings in dieser Wildnis hinterlassen hatten – scharlachrote Perlen, die den Weg durchs Labyrinth vorzeichneten. Wieder versuchte ich zu schlucken, doch mein Mund war ausgetrocknet. In meinen Schläfen hämmerte der Puls, als wüsste er etwas, was mir verborgen war. Da spürte ich unter meinem Gewicht das Tor nachgeben und bemerkte, dass es nicht abgeschlossen war.
    Bei meinem ersten Schritt ins Innere beleuchtete der Mond die blassen Gesichter der steinernen Engel in der Mitte des Brunnens. Sie beobachteten mich. Meine Füße waren wie festgewurzelt. Ich wartete darauf, dass diese Wesen von ihren Podesten sprängen und zu Teufeln mit Wolfsklauen und Schlangenzungen würden. Nichts dergleichen geschah. Ich atmete tief und erwog die Möglichkeit, meine Phantasie zum Schweigen zu bringen oder aber, noch besser, meine zaghafte Erforschung dieses Besitzes abzubrechen. Doch jemand anders entschied für mich. Ein himmlischer Klang erfüllte die Schatten des Gartens wie ein
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