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Marina.

Marina.

Titel: Marina.
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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nachgehen?«
    »Du wolltest doch Action, oder?«, sagte sie, halb mitleidig, halb aufgebracht, wie zu einem Trottel.
     
     
    Als wir uns wieder in der Calle Dr. Roux befanden, ging die Frau in Richtung Bonanova davon. Es begann erneut zu regnen, aber die Sonne wollte nicht verschwinden. Wir folgten der Dame durch einen goldenen Tränenvorhang. Nach dem Überqueren des Paseo de la Bonanova begannen wir den Hang zu den Hügeln hinanzugehen, wo Palästchen und Villen aus besseren Zeiten standen. Die Dame betrat das Geflecht menschenleerer, von einer Laubdecke übersäter Straßen, die glänzten, als bestünden sie aus den abgestreiften Schuppen einer großen Schlange. Dann blieb sie, eine lebende Statue, auf einer Kreuzung stehen.
    »Sie hat uns gesehen …«, flüsterte ich und verbarg mich mit Marina hinter einem dicken Baumstamm voller Einkerbungen.
    Einen Moment befürchtete ich, sie könnte sich umdrehen und uns wirklich entdecken. Doch nein. Wenig später bog sie links ein und verschwand. Wir schauten uns an und nahmen die Verfolgung wieder auf. Die Spur führte uns in eine schmale Sackgasse, an deren Ende oberirdisch die Gleise der Sarriá-Bahn nach Vallvidrera und Sant Cugat verliefen. Wir blieben stehen. Keine Spur von der Dame in Schwarz, obwohl wir sie genau da hatten einbiegen sehen. Über den Bäumen und den Hausdächern konnte man in der Ferne die Türme des Internats erkennen.
    »Sie wird ihr Haus betreten haben«, vermutete ich. »Sie muss hier irgendwo wohnen …«
    »Nein. Diese Häuser sind unbewohnt. Hier lebt niemand.«
    Marina deutete auf die hinter Gittertoren und Mauern verborgenen Fassaden. Zwei alte leerstehende Lagerräume und ein vor Jahrzehnten von den Flammen verzehrtes Haus – das war alles, was noch stand. Die Dame war uns vor der Nase entwischt.
    Wir gingen in die Gasse hinein. Zu unseren Füßen spiegelte sich in einer Lache ein Stückchen Himmel; die Regentropfen verzerrten unser Bild. Am Ende der Gasse bewegte sich ein hölzernes Tor im Wind. Marina sah mich schweigend an. Vorsichtig traten wir näher, und ich riskierte einen Blick. Das Tor, eingefügt in eine rote Backsteinmauer, führte auf einen Innenhof. Was einmal ein Garten gewesen war, wurde jetzt vollständig von Unkraut überwuchert. Hinter dem Dickicht konnte man die Fassade eines seltsamen, efeuüberwachsenen Baus erahnen. Erst nach einem Moment begriff ich, dass es sich um ein von einem Stahlskelett getragenes gläsernes Gewächshaus handelte. Die Pflanzen zischten wie ein lauernder Insektenschwarm.
    »Du zuerst«, forderte mich Marina auf.
    Ich nahm allen Mut zusammen und drang ins Unkraut ein. Marina ergriff meine Hand und folgte mir. Ich spürte, wie meine Schritte in einer Schuttdecke versanken. Das Bild eines Knäuels dunkler Schlangen mit scharlachroten Augen ging mir durch den Kopf. Wir wichen dem Dschungel feindlicher Äste aus, die uns die Haut zerkratzten, und gelangten auf eine Lichtung vor dem Gewächshaus. Dort ließ Marina meine Hand los und betrachtete die unheimliche Konstruktion, über die der Efeu ein alles bedeckendes Spinnennetz wob. Das Gewächshaus sah aus wie ein in den Tiefen eines Sumpfes begrabener Palast.
    »Ich fürchte, sie hat uns abgehängt«, sagte ich. »Hier hat jahrelang niemand einen Fuß hingesetzt.«
    Widerwillig gab mir Marina recht. Mit enttäuschtem Gesicht warf sie einen letzten Blick auf das Gewächshaus. Stille Niederlagen schmecken besser, dachte ich.
    »Komm, lass uns gehen«, sagte ich und streckte ihr die Hand hin in der Hoffnung, sie würde sie für den Gang durchs Dickicht wieder ergreifen.
    Sie ignorierte sie und entfernte sich mit gerunzelter Stirn hinter das Gewächshaus. Seufzend und lustlos folgte ich ihr. Dieses junge Mädchen war starrköpfiger als ein Maultier.
    »Marina«, begann ich, »da ist kein …«
    Ich fand sie hinter dem Gewächshaus vor etwas, was wie der Eingang aussah. Sie blickte mich an und wischte den Schmutz von einer Inschrift auf der Glasscheibe. Ich erkannte den gleichen schwarzen Schmetterling wie auf dem anonymen Friedhofsgrab. Marina legte die Hand darauf. Langsam gab die Tür nach. Ich konnte den süßlich stinkigen Brodem riechen, der aus dem Inneren drang. Es war der Gestank vergifteter Sümpfe und Schächte. Mein letztes bisschen gesunden Menschenverstand ignorierend, setzte ich meinen Fuß in die Dunkelheit.

5
    E in gespenstischer Geruch nach Parfüm und morschem Holz hing in den Schatten. Der Boden bestand aus frischer, feuchter
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