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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind
Autoren: Federica de Cesco
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übersichtliche Ebene voller Verstecke und Unterschlupfe war, wo sich Menschen und Tiere verbergen konnten. Eine Zeit lang war sie den Spuren der Stute gefolgt. Palomas Schritt war schwerfällig: Sattel und Zaumzeug belasteten sie. Dann hatte der Schimmel die Fährte der Herde gekreuzt und Mari hatte seine Spur verloren. Doch sie gab ihre Suche nicht auf. Sie überließ es dem Zufall und hoffte darauf, dass es ihr mithilfe ihres Instinkts gelingen würde, Paloma aufzuspüren. Jede Stunde zählte. Sobald es tagte, würden die Gardians das entlaufene Pferd finden und in die Enge treiben. An Schlaf dachte Mari nicht und sie war auch nicht besonders hungrig. Sie kannte die Körner, die zwischen den Zähnen knacken, und die kleinen Beeren, die Finger und Zunge blau färben. Im fahlen Mondlicht fand sie einige. Etwas später entdeckte sie eine Quelle, die unter den Steinen hervorsprudelte. Sie kniete nieder, trank gierig aus der hohlen Hand. Doch das Wasser schmeckte nach Salz und Erde, ihr drehte sich fast der Magen um. Sie fühlte sich zerschlagen und betäubt, war den Tränen nahe. Irgendwann kam ihr die Mutter in den Sinn, die sich sicher fragen würde, wo sie blieb. Doch es war schon manchmal vorgekommen, dass Mari bei anderen Leuten übernachtete, und so verschwendete sie nicht allzu viele Gedanken an Lola. Langsam veränderte sich der Nachthimmel; schon ging der Mond unter, das Quaken der Frösche verstummte. Der erste Schein der Dämmerung brach aus dem Osten über das Meer. Maris Haut fühlte sich verklebt an, sie fror bis in die Knochen. Auf der Weide sah sie die hellen Körper der Pferde am Boden ruhen. Pferde konnten im Stehen schlafen, aber sie legten sich lieber hin. Sie rührten sich kaum, als das Mädchen an ihnen vorbeischlich. In diesen frühen Stunden vor Tagesanbruch hielt die Natur den Atem an. Kein Flügelschlag war im Dickicht zu hören, kein Zweig rührte sich. Immer wieder spitzte Mari die Lippen, stieß ihren lockenden Pfiff aus. Er hörte sich nicht menschlich an, eher wie der Ruf eines Vogels. Plötzlich ertönte aus dem Schilf das Schnauben eines Pferdes. Maris Herz klopfte hart gegen ihre Rippen. Im fahlen Dämmerlicht versuchte sie, durch das Buschwerk zu spähen. Sie befand sich ganz in der Nähe der Stierweide. Mari pfiff noch einmal, lauter jetzt. Da – schon wieder das Schnauben! Ein Pferdehuf schlug an einen Stein. Das Meer war hier ganz nahe. Zwischen stacheligen Büschen stapfte Mari den Dünenkamm empor. Als sie oben war, stockte ihr der Atem: Am Saum des Meeres, das dunkelblau war wie Stahl, stand ganz ruhig das weiße Pferd und ließ die Ohren spielen. Mari hatte es so eilig, zu Paloma zu kommen, dass sie sich einfach fallen ließ und wie eine Kugel den Sand hinunterrollte. Keuchend kam sie wieder auf die Beine, lief über den Strand. Einen Augenblick stampfte Paloma zögernd, wiegte ihren Körper unschlüssig vor und zurück. Dann erkannte sie das Mädchen, trabte ihr mit fliegender Mähne entgegen. Mari warf beide Arme um ihren Hals. Paloma zitterte; ihr Fell roch nach Algen, Sand und scharfem Schweiß. Sie rieb ihre Wange an Maris Gesicht, ihr Atem streifte das klebrige Haar des Mädchens. »Endlich . . .«, flüsterte Mari. »Endlich habe ich dich gefunden!« Behutsam nahm sie Paloma das Mundstück aus dem Maul, streifte die Zügel über ihre Mähne, ließ das Zaumzeug zu Boden fallen. »So . . . Jetzt fühlst du dich besser, was?« Paloma wieherte sanft; es klang wie eine Zustimmung. Nun hakte Mari auch die Sattelgurte auf, befreite das Pferd von dem Sattel und der schweißklammen Decke. Dann lehnte sie sich an die Stute und fragte sich zum ersten Mal: Was nun? Sie streichelte den Hals des Pferdes, das ab und zu zärtlich das Maul an ihrer Schulter rieb. Wie konnte sich Mari gegen Marcel Aumale wehren? Paloma durfte nicht bei ihm bleiben, auf keinen Fall! Mari überlegte fieberhaft. In Sète, unweit der Grenze zu Spanien, lebte ein Cousin ihrer Mutter. In seiner Jugend hatte Folco als Trapezkünstler gearbeitet. Er hatte sich mehrmals die Knochen gebrochen und lebte jetzt von der Sozialhilfe. Er wusste, wie man mit Pferden umging. Bei ihm wäre Paloma in Sicherheit. Man würde ihn auch nicht fragen, woher er das Tier hatte. Wenn wir sofort reiten, dachte Mari, schaffen wir die Strecke in zwei Stunden.
    Doch was sollte mit dem Sattel geschehen? Er war aus gutem Leder und trug Aumales Abzeichen. Plötzlich hatte Mari eine Idee. Sie streifte ihre Turnschuhe ab, zog ihre Jeans aus
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