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Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2
Autoren: Gary Jennings
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des Lesens zu erlernen?«
    »Ach, Älterer Bruder, zu so hoher Bildung habe ich mich nie verstiegen«, sagte der Mann und nahm das Dokument an sich. »Doch selbst ich sehe und erkenne das Groß-Siegel des
    Khakhan. Ich bin untröstlich, erkennen zu müssen, die Weiterreise eines so hohen Würdenträgers, wie Ihr einer sein müßt, aufgehalten zu haben.«
    »Ihr tut doch nur Eure Pflicht, Älterer Bruder. Aber wenn ich den Brief jetzt zurückbekommen könnte, würden wir gern weiterreiten.«
    Doch die Schildwache gab ihn nicht zurück. »Mein Herr Kaidu ist zwar nur eine elende Hütte neben dem Pracht-Zelt seines Älteren Vetters, dem Khakhan Kubilai. Doch aus diesem Grunde wird es ihn verlangen, des Vorrechts teilhaftig zu werden, die geschriebenen Worte seines Vetters zu sehen und in Ehrfurcht durchzulesen. Zweifellos wird mein Herr auch den Wunsch äußern, die erlauchten Sendboten seines Herren Vetters zu empfangen und zu begrüßen. Wenn Ihr also gestattet, Älterer Bruder, werde ich ihm das Papier zeigen.«
    »Wirklich, Älterer Bruder«, sagte mein Vater ein wenig ungeduldig, »wir bedürfen keiner Pracht und keiner feierlichen Begrüßung… Wir wären dankbar, wenn wir einfach weiterreiten dürften nach Kashgar, ohne irgendwelche Umstände hervorzurufen.«
    Doch die Schildwache achtete seiner nicht. »Hier in Kashgar sind die Herbergen verschiedenen Arten von Gästen vorbehalten. Es gibt eine karwansarai für Pferdehändler, eine für Kornhändler…«
    »Das wissen wir bereits«, stöhnte mein Onkel Mafìo. »Wir sind schon einmal hier gewesen.«
    »Dann, Ältere Brüder, empfehle ich Euch jene für Durchreisende, die Herberge zu den Fünf Glückseligkeiten. Sie liegt in der Gasse der Duftenden Menschlichkeit. Jedermann in Kashgar kann Euch hin…«
    »Wir wissen, wo sie ist.«
    »Dann seid bitte so freundlich, dort abzusteigen, bis der Ilkhan Kaidu Eurer Anwesenheit in seiner Pracht-yurtu erheischt.« Den
    Brief immer noch in der Hand, trat er einen Schritt zurück und winkte uns weiter. »Und jetzt reitet in Frieden, Ältere Brüder. Ich wünsche Euch eine gute Reise.«
    Nachdem wir außer Hörweite der Schildwache geritten waren, fluchte Onkel Mafìo halblaut: »Merda mit Kruste! Müssen wir von allen mongolischen Armeen ausgerechnet auf die von Kaidu stoßen?«
    »Ja«, sagte mein Vater. »Ohne Zwischenfall so weit gekommen zu sein, und dann ausgerechnet ihm in die Arme zu laufen.«
    Verdrossen nickte mein Onkel. Dann sagte er: »Wer weiß, ob wir überhaupt je weiterkommen!«
    Um deutlich zu machen, warum mein Vater und mein Onkel Ärger und Sorge bekundeten, muß ich ein paar Dinge über dieses Land Kithai erklären, in das wir nun gekommen waren. Zunächst einmal wird der Name des Landes im Abendland ganz allgemein fälschlich mit »Ca-thay« angegeben, woran ich nicht das geringste ändern kann. Ich würde nicht einmal einen Versuch machen, das zu tun, denn auch das richtig ausgesprochene »Kithai« ist ein Name, den die Mongolen dem Land erst vor vergleichsweise kurzer Zeit gegeben haben, nämlich fünfzig Jahre vor meiner Geburt. Dieses Land war das erste, das die Mongolen bei ihrem Sturm über die Erde eroberten; hier beschloß Kubilai, seinen Thron aufzurichten; denn das Land ist die Nabe der vielen Speichen des weit sich dehnenden Mongolen-Reichs -genauso wie unser Venedig Dreh-und Angelpunkt für die vielen Besitzungen unserer Republik darstellt: Thessalien und Kreta, das Véneto genannte Festland und alle anderen. Doch genauso wie die Vèneti ursprünglich von anderswoher -irgendwo aus dem Norden -an die venezianische Lagune kamen, genauso kamen die Mongolen nach Kithai.
    »Es gibt bei ihnen eine Legende«, sagte mein Vater, nachdem wir alle behaglich in der Kashgarer karwansarai Zu den Fünf Glückseligkeiten untergekommen waren und unsere Lage besprachen. »Zwar müßte man eigentlich darüber lachen, aber die Mongolen glauben nun mal daran. Sie sagen, vor langer, langer Zeit habe einmal eine Witwe ganz allein auf den verschneiten Ebenen in einer yurtu gelebt. Da sie sich einsam fühlte, freundete sie sich mit einem blauen Wolf aus der Wildnis an, paarte sich schließlich mit ihm, und dieser Paarung entsprang der erste Ahn der Mongolen.«
    Zu diesem legendären Anfang ihres Volkes kam es in einem Land, das weit nördlich von Kithai gelegen war und Sibir hieß. Ich habe Sibir nie aufgesucht und auch nie die Lust verspürt, es zu tun, denn es soll ein flaches und uninteressantes Land sein, das
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