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Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
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Mannes genau im Fadenkreuz. Kusnezow fühlte sich
sicher. Im Zweifel würde er sich den Weg frei schießen.
Das war nicht seine Art, aber dieser Auftrag hier drohte ein
bisschen schwieriger zu werden, als er ihn sich vorgestellt hatte.
Zu viele Menschen wollten gleichzeitig ins Ziel. Einige lieferten
sich einfach so zum Spaß noch mal ein kleines Laufduell,
andere jubelten in die Menge, hüpften herum, während
wieder andere auf den letzten Metern noch mal ihren Nachbarn zur
Seite schubsten. Er musste ihn früh genug sehen, um ihm mit
dem Zielfernrohr bis ins Ziel zu folgen.
    Erst dann durfte er
schießen, keinesfalls vorher, bestenfalls genau in dem
Moment, wo er unter dem Tor durchlief. Es konnte sich nur noch um
wenige Minuten handeln. Er hatte in Tschetschenien gelernt, wie
sich absolute Konzentration über Stunden aufrechterhalten
ließ, während sein Körper völlig entspannt
blieb. Nichts war schlimmer als ein Krampf im falschen Augenblick.
Jede Bewegung konnte tödlich sein. Jede Ablenkung konnte dazu
führen, dass er genau den Moment verpasste, auf den er seit
Stunden gewartet hatte.
    Das war hier nicht
nötig, weil er einen exakten Zeitrahmen von wenigen Minuten
hatte, in dem ihm seine Zielperson vor den Gewehrlauf kommen
würde. Dafür musste er sie auf große Distanz aus
einer Menge herausschießen.
    Bevor er das Gewehr
wieder in Position brachte, um sein Opfer durch das Zielfernrohr
möglichst früh entdecken zu können, nahm er noch
einmal den Kopf dieses Irren auf der Zielgeraden ins Visier. Diese
neueste Hightechzieloptik war von exzellenter Qualität. Man
konnte fast die Gesichtszüge der Zielpersonen erkennen. Der
Kopf des Mannes drehte sich, sein Blick wanderte über die
Tribünen die Fassade des Hauses hoch, auf dessen Dach er lag,
bis er ihm schließlich in die Augen zu sehen schien. Das war
natürlich Unsinn und kaum möglich, zu weit war dieser
Mann von ihm entfernt, und trotzdem erschrak Kusnezow.
    Er hatte eine
Situation in Tschetschenien erlebt, wo er mehrere Stunden die
zerschossenen Fenster eines Hauses abgesucht hatte. Immer wieder
und wieder, bis er plötzlich in den Gewehrlauf eines Rebellen
gestarrt hatte. Damals hatte er nicht den Bruchteil einer Sekunde
gezögert und abgedrückt, was ihm wahrscheinlich das Leben
gerettet hatte. Ein Scharfschütze im Krieg durfte nicht
nachdenken. Jeder Gedanke konnte tödlich sein. Doch hier war
er nicht im Krieg. Der Verstand hinderte ihn, abzudrücken. Und
während er sich genauso blitzschnell wieder beruhigte, wie ihm
zuvor für einen Augenblick das Adrenalin durch den Körper
geschossen war, wandte sich der Mann auf der Strecke wieder von ihm
ab, um weiter Richtung Ziel zu gehen.
    Ein letzter
Gruß, ein letzter Blick zum Abschied. Die dunklen
Domtürme mahnten ihn zur Selbstdisziplin. Er merkte, wie sich
sein Pulsschlag beschleunigte. Unter normalen Umständen
hätte er nun sein Tempo drosseln müssen, um unnötige
Qualen zu vermeiden, doch diesmal sollten sie dazugehören.
Ausstandsfeierlichkeiten. Er wollte den schnellsten Marathon seines
Lebens laufen. Ein Blick auf die Stoppuhr am Arm bestätigte
ihm, dass ihn nur noch ein unvorhergesehenes Unglück daran
hindern konnte. Er überlegte nicht lange, als ihm die
grölende Horde junger Männer ein Kölsch im
Plastikbecher anbot, während er an ihr vorbeilief. So etwas
hatte er noch nie getan, doch diesmal musste auf das Leben und die
Welt angestoßen werden. Die Männer tobten, als er sich
den Becher schnappte. So kurz vor dem Ziel hatte das offenbar vor
ihm noch keiner getan.
    »Ein Mann, der
weiß, was gut ist!«, rief ihm einer aus der Gruppe
unter Applaus zu. Er prostete zurück und trank das lauwarme
Bier in einem Zug.
    »Auf das Leben
und die Welt!«, rief er. »Das sinnlose Leben und die
ignorante Welt!« Niemand konnte ihn hören, so laut war
hier in der Altstadt das Publikum. Aus einem Lautsprecher auf einer
Fensterbank dröhnte hämmernde Technomusik. Das
elektronische Gestampfe trieb ihn über den Alter
Markt.
    »Nichts
verstanden habt ihr«, brüllte er der tauben Menge zu.
»Geht nach Hause!« Die Leute waren süchtig nach
Spaß. Alle. Kurzweilige Belanglosigkeiten als Sinn des
Lebens. Bum, bum, bum. Musik aus der Retorte als Soundtrack
für den alltäglichen Stumpfsinn. Leben aus der Konserve,
alles portionsgerecht für alle Anlässe vorbereitet.
Saufen und fernsehen, dazwischen viel essen und gelegentlich ein
paar Körperflüssigkeiten austauschen.
    »Das wird immer
so weitergehen
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