Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marathon

Marathon

Titel: Marathon
Autoren: Helmut Frangenberg
Vom Netzwerk:
wiedergegeben hatten, waren dem Richter zu
wenig.
    Gods and dogs. Herren
und Sklaven. Was für ein Unsinn, schoss es Gröber durch
den Kopf, während er die Brückenrampe weiter
hinunterging. Er schaute zum Lufthansa-Hochhaus herauf, das einen
langen Schatten über die gesperrte Straße warf. Sie
seien zu Recht gestorben, hatte Gollembeck gesagt. Der Tod als
verdiente Strafe.
    Jetzt konnte
Gröber etwa hundert Meter vor sich das große Tor sehen,
das das Ziel des Marathons markierte. Der Lärm, den die
Zuschauer hier machten, war ohrenbetäubend.
    Der Mensch hat das
Recht, nach seinen eigenen Gesetzen zu leben. Das schloss das Recht
mit ein, zu sterben, wann und wie er will. Hat er auch das Recht zu
töten?
    Gröber versuchte
in der Menschenmenge einzelne Gesichter zu fixieren, ein Gesicht zu
finden, das zu einem Menschen passen könnte, der
plötzlich auf die Strecke stürmen und einem Mann ein
Messer in den Leib rammen könnte. Er suchte nach Gollembecks
verlebtem Gesicht, nach Randbergs Augen, nach irgendjemandem, der
hier nicht hingehörte.
    »Wenn es
passiert, passiert es im Ziel«, sprach er laut vor sich hin.
Hier konnte ihn ohnehin niemand hören. Er hatte längst
die beiden Polizisten aus den Augen verloren, denen er beim
Abfangen von Gassmann helfen sollte. Stattdessen steuerte er mit
schnelleren Schritten auf das Ziel zu. Er achtete nicht mehr
darauf, ob er die Läufer behinderte. Er irrte über die
Zielgerade und suchte mit scharfem Blick die
Tribünenränge und Zuschauerreihen ab.

61
    Zwei Welten, zwei
Sprachen. Wie kam es, dass ihn niemand verstehen wollte? Kinder
leben oft in zwei Welten. Kinderabenteuerjahre. Dann können
sie sogar mit sich selbst sprechen. Interviews führen
gewissermaßen. Er hatte sich früher vorgestellt, ein
Rockstar zu sein. Er hatte Plattencover gemalt und seine
Lieblingssongs hinten draufgeschrieben, die damit zu seinen eigenen
Kompositionen wurden. Dann war er in Fernsehstudios erschienen, um
die Fragen zu beantworten, die er sich für sich ausgedacht
hatte.
    »Was haben Sie
noch vor? Was sind Ihre Ziele? Was sagen Sie zur deutschen
Außenpolitik? Sind alle Kinder so wie Sie?«
    »Nein, ich
glaube nicht. Ich bin vielleicht ein bisschen
anders.«
    So lebte das Kind in
einer wunderbaren, ausgedachten zweiten Welt, zu der niemand
Kontakt hatte außer ihm selbst. Es wäre ein großer
Irrtum zu glauben, dass diese Phantasiewelt nichts mit der realen
Welt zu tun hätte. Tatsächlich waren sie so nah
beieinander wie die Welt der Lebenden und die der Toten. Die Toten,
sagt man, benutzen zwar dieselben Wörter wie die Lebenden,
doch haben ihre Worte in ihrer Welt die genau entgegengesetzte
Bedeutung. Das beweisen zu können, würde ihm
gefallen.
    Als er Vosskamp
tötete, hatte er versucht, in seinen Augen einen Blick ins
Jenseits werfen zu können. Er hatte ihm die Lider aufgehalten,
weil er glaubte, so verhindern zu können, dass sich die
Pupillen wegdrehen.
    Wie ist es zu sterben?
Ein Gefühl? Was ist mit dem Schmerz? Irgendwann muss er
verschwinden, abrupt oder ganz langsam? Kann man das Sterben
fühlen, weiß man um den letzten Atemzug? Denkt man: So
das war's, auf Wiedersehen? Abschiedsschmerzentzug? Man
erzählt sich davon, dass angeblich noch einmal die Bilder des Lebens
blitzartig an einem vorbeiziehen. Passiert das vorwärts oder
rückwärts? Sieht man Dinge, die man noch nie gesehen hat,
weil sie in der Kindheit spielen oder weil man ihnen damals, als
sie passierten, keine Beachtung geschenkt hat? Und was sieht man,
wenn man wieder im Geburtskanal angekommen ist? Er wollte es
herausbekommen.

62
    Kusnezow sah durch
sein Zielfernrohr erneut Dinge, mit denen er wenig anfangen konnte.
Nach dem Zwischenfall mit dieser Frau, die zuerst
überwältigt worden war, bevor sie dann später selbst
einen Mann in Handschellen abgeführt hatte, sah er nun einen
Mann ohne Laufkleidung hektisch über die Strecke torkeln. Er
wirkte wie ein Betrunkener oder ein Orientierungsloser, der nicht
mehr wusste, wo er war. Hin und wieder machte der Mann eine Pause,
klammerte sich an den Absperrungen fest und starrte ins Publikum.
Dann rannte er auf die andere Seite, stolperte über die
Füße der Läufer, von denen sich einige wild
gestikulierend zu beschweren schienen. Warum holte keiner den Mann
von der Strecke?
    Als schließlich
doch zwei Ordner den Weg zu ihm gefunden hatten, schleppten sie ihn
nicht etwa weg. Sie ließen ihn nach einem kurzen
Gespräch wieder in Ruhe.
    Jetzt hatte er den
Kopf des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher