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Marathon Mosel

Marathon Mosel

Titel: Marathon Mosel
Autoren: Mischa Martini
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länger gedauert, als er geplant hatte. Gegen fünf Uhr schraubte er seine Digitalkamera auf ein kleines dreibeiniges Stativ und fotografierte die Karten, in denen die Funde der letzten Jahrzehnte eingezeichnet waren. Auf dem Display kontrollierte er Schärfe und Belichtung. Anschließend legte er vergilbte Fotos, die Aufklärungsflugzeuge während und nach Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg aufgenommen hatten, zum Ablichten unter seine Kamera.
    Ein Telefonapparat schrillte. Ben zuckte zusammen. Seine Uhr zeigte sechs Uhr dreißig. Hastig räumte er die Fotos vom Tisch, schloss die Schränke und das Fenster. Auf dem Weg zur Tür schraubte er das Stativ auseinander, steckte die Kamera ein und ließ seinen Blick noch einmal prüfend durch den Raum wandern.
    Im Osten ließ die Sonne ein dünnes Wolkenband über der weiten Hügellandschaft aufglühen. Das Rauschen von der Straße war zu einem Lärmspektakel angestiegen, das den Singvögeln keine Chance ließ. Ben schlüpfte in seine Schuhe, hakte das Vorhängeschloss ein und zog den Kaugummi vom Sensor. Als er geduckt zur zweiten Baracke lief, sah er einen Wagen, der auf dem parallel zum Zaun verlaufenden Weg fuhr. Ben ließ sich fallen und robbte im Schutz des am Maschendraht wuchernden Unkrauts zum ersten Gebäude. Hatte man ihn entdeckt? Der Motor des Wagens nagelte im Leerlauf. Das Eingangstor glitt über die Rollen. Er spähte um die Ecke und sah, wie ein Mann zum Wagen zurückging und einstieg.
    Ben überlegte, ob er noch versuchen sollte, den Kaugummi vom zweiten Bewegungsmelder zu entfernen. Er könnte warten, bis der Mann auf dem Gelände war. Was, wenn weitere Kollegen auftauchten?
    Ben verschwand auf der anderen Seite hinter der Barackenwand, als er den Wagen näher kommen hörte, und lief, das Gebäude als Deckung nutzend, hinüber zu der Bunkerruine. Als er sie erreicht hatte, schaute er vorsichtig zurück. Der Mann kam schnellen Schrittes in seine Richtung. Keine fünfzig Meter trennten sie noch.
    Ben gab die Deckung auf. Er spurtete zum Zaun und fand gleich die Stelle, wo er durchschlüpfen konnte. Im Wald hastete er über Gräben und totes Holz. Sein Fuß geriet in eine Pflanzenschlinge und brachte ihn zum Stolpern. Im letzten Moment fing er sich wieder. Kurz vor der Lichtung, auf der er das Auto abgestellt hatte, kauerte er sich hinter einen verrotteten Holzstapel.
    Während er die Pistole herauszog, atmete er kräftig ein und aus, versuchte sich zu beruhigen. Hinter ihm knackte Holz. Nur Bens Kopf und sein ausgestreckter Arm mit der Waffe in der Hand tauchten hinter der Deckung auf. Sein geduckt laufender Verfolger blieb wie angewurzelt stehen.
    *
    Walde schaltete im Vorbeigehen den Rechner an und öffnete das Fenster. In das Rauschen des Verkehrs mischte sich die Glocke von St. Paulus. In der Nacht hatte es seit Wochen zum ersten Mal geregnet. Frühnebel lag über der Stadt. Zurück am Schreibtisch rief Walde seine Mails vom Wochenende ab. Ein Teil der Betreffzeilen war in englischer Sprache verfasst. Wie kam es, dass er selbst im Präsidium nicht von diesen nervenden Spams verschont blieb? Er schob den Mist in den Papierkorb und beobachtete am Monitor vorbei, wie eine Amsel vor dem Fenster landete. Die winzigen dunklen Augen des Vogels spähten ins Zimmer. Als wolle der ihm einen Wink geben, pickte er mit dem Schnabel auf die Fensterbank. Wenn es im Winter sehr kalt war, streute Walde dort Vogelfutter aus.
    Er nahm das am Wochenende eingefangene Lächeln von Annika und Doris aus der Brusttasche seines Hemdes, strich darüber und tauschte es gegen das bereits eine Woche alte Bild im Rahmen auf seinem Schreibtisch aus.
    Das Telefon klingelte.
    »Ja, Bock!«
    »Herr Bock, Sie laufen doch auch?«
    Walde erkannte die Stimme seines Chefs. Was wollte er? Natürlich konnte er laufen.
    »Herr Bock, sind Sie noch da?«
    »Herr Präsident?« Walde seufzte. Um einen Mord konnte es sich nicht handeln. Das hätte Walde schon vor seinem Chef erfahren. Was konnte es sonst sein? Hatte einer von Stiermanns Freunden ihn beim sonntäglichen Golf um einen Gefallen gebeten? Aber die hatten mit Laufen nichts am Hut. Dann war er womöglich bei einem Treffen der deutsch-amerikanischen Gesellschaft gewesen?
    »Sie sind wohl noch nicht ganz wach?«
    »Herr Stiermann, ich b i n wach und kann auch laufen.« Walde spürte, dass er nicht so freundlich sprach, wie es seinem Chef gegenüber ratsam gewesen wäre. Die Woche versprach hektisch zu werden. Das hatte zwar eher private
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