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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Autoren: Catherine Banner
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ich Priester werde, Leo, dann werde ich keiner.«
    »Warum bist du so beeinflussbar?«
    »Was heißt das?«
    »Dass du zu sehr auf die Meinung anderer Leute hörst«, erklärte ich. »Ich meine, wenn es das ist, was Gott dir befohlen hat zu tun, dann ist es das, was du tun musst. Wer ist wichtiger, Gott oder ich?«
    »Aber wie Jesus gesagt hat: Wenn ich dich verletze, verletze ich damit auch ihn. Es heißt doch: › Was ihr dem Geringsten unter meinen Brüdern getan habt …‹ «
    Ich lachte. »Halt den Mund, Stirling, und werde von mir aus Priester. Mir fällt nichts ein, was besser zu dir passen würde.«
    »Es sei denn, ich muss auch Soldat werden.« Er ru n zelte die Stirn. »Vielleicht wird es bis dahin noch eine Revolution geben. Eine mit gutem Ausgang. Vielleicht wird der Prinz zurückkehren.«
    Ich bedeutete ihm, still zu sein. »Stirling! Willst du im Gefängnis landen?«
    »Tut mir leid, Leo.«
    Er begann zu summen, und wir legten das letzte Stück wortlos zurück. Es war nicht mehr weit.
     
    Am nächsten Morgen stellte ich enttäuscht fest, dass in dem seltsamen Buch keine neue Eintragung erschienen war. Ich hatte gehofft, dass da eine sein würde. Ich hatte sogar fest damit gerechnet. Jedes Mal, wenn ich an das Buch dachte, überprüft e i ch es von Neuem, aber nac h dem eine Woche später immer noch nichts passiert war, vergaß ich es allmählich.
    Eines Abends kam ich spät und allein nach Hause z u rück. An den Straßenrändern, die die Sonnenstrahlen niemals erreichten, war der Schnee noch immer zu ha r ten, grauen Splittern gefroren. Es war inzwischen Anfang Juni, aber genauso gut hätte es mitten im Winter sein können.
    Ich beeilte mich, weil ich es nicht mochte, in den dü s teren Gassen irgendwelchen Leuten zu begegnen, ohne zu wissen, wer sie waren. Doch an jenem Tag waren die Straßen wie ausgestorben. Die Luft war so still, dass ich sogar das Geschützfeuer und die Explosionen an der nordöstlichen Grenze hören konnte, wo Malonia an Alc y ria stößt. Trotz der großen Entfernung konnte man es an Tagen wie diesen hören.
    Ich trottete die Gasse neben dem Haus hinunter und trat, nachdem ich das harte Eis von meinen Stiefeln g e klopft hatte, durch die Seitentür ein. An diesem Tag war der Himmel von dunklen Wolken verhangen, und im Treppenhaus rieselte Staub zu Boden. Meine Schritte hallten kalt auf den Steinen wider, während ich die St u fen hinauflief. Ich kam an den beiden unteren Türen – mit Stahl verstärkt, genau wie bei unserer – vorbei und erreichte schließlich den dritten und vorletzten Stock. Die oberste Wohnung stand schon seit Jahren leer, und auf dem Geländer und den Treppenstufen neben unserer Tür hatte sich eine dicke Staubschicht angesammelt.
    »Ich bin zu Hause, Großmutter!«, rief ich, als ich die Tür hinter mir schloss.
    Sie kam mir entgegen. »Leo, wo bist du gewesen? Wo ist Stirling ?« Ich setzte mich aufs Sofa, legte den Mantel neben mich und steckte die Schlüssel wieder in die T a sche. »Leo, wo ist Stirling ?«, wiederholte sie.
    »Er muss lange nachsitzen.« Ich sprach langsam, weil ich wusste, dass sie wollte, dass ich schnell sprach.
    »Schon wieder?« Sie blieb vor dem Sofa stehen und sah mich stirnrunzelnd an. »Was hat er diesmal ang e stellt?«
    »Er hat sich geweigert zu exerzieren. Wir mussten Zielübungen machen, und du weißt, dass er da nie mi t macht.«
    Meine Großmutter setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster und warf in einer Geste der Verzweiflung die Hände in die Luft. »Also wirklich, Leo!«
    »Was ist? Was habe ich getan? Es ist nicht meine Schuld, dass Stirling ein Pazifist oder was auch immer ist.«
    »Er ist kein Pazifist, Leo.« In rastloser Unruhe stand sie wieder auf. Ich sah sie an, sagte jedoch nichts. »Er weiß noch nicht einmal, was ein Pazifist ist. Er ist erst acht! Du bist ein schlechtes Vorbild für ihn, Leo, das zum einen, und zum anderen: Er ist faul.«
    »Ich glaube, du unterschätzt ihn manchmal«, wide r sprach ich. »Er ist sehr schlau. Jeder kann erkennen, dass er sehr schlau ist, und falls …«
    »Das musst du mir nicht sagen«, unterbrach sie mich. »Aber wie intelligent auch immer er ist, es wird ihn ni r gendwo hinbringen. Intelligenz ist nutzlos, solange man sie nicht gewinnbringend einsetzt. Welchen Nutzen hat ein Gelehrter für eine Familie? Niemand braucht Profe s soren oder Anwälte. Wir brauchen Soldaten und Bauern und Fabrikarbeiter. Bücher und Vorträge bringen kein Essen auf den
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