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Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Walter Mosley
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Rolltreppe, bevor dem Bullen die Verordnung einfiel, gegen die ich gerade verstoßen hatte.

4
    Ich nahm die Treppe ins Hauptgeschoss. Der Bahnhof brodelte vor Leben. Hunderte von ankommenden und abfahrenden Passagieren, manche warteten geduldig auf ihren Bus, andere telefonierten mit ihren Handys. Einige schwatzten mit ihren Reisegefährten. Touristen und Obdachlose, Geschäftsmänner und -frauen, Prostituierte und Polizisten, alle waren versammelt und bewiesen, dass der Schmelztiegel nicht nur eine Tatsache, sondern bisweilen auch ein Albtraum war.
    Es war Montag, später Vormittag, und nachdem Zella mich hatte stehen lassen, hatte ich andere Dinge zu erledigen. Mein leiblicher Sohn zog an diesem Tag bei uns aus. Und ich musste mein Fieber lindern.
    An einem Zeitungskiosk kaufte ich ein Zweierpack Aspirin für fünfzig Cent und eine Flasche Wasser für zwei Dollar fünfundneunzig. Ich stand da, ein gedrungener Mann in einer Menschenmenge aus Bürgern und Bewohnern, schluckte meine Medizin und fühlte mich kraftlos.
    »Leonid«, sagte ein Mann. Es war, als ob in diesem öffentlichen Gebäude eine Party gegeben würde, zu der alle meine alten und neuen Bekannten eingeladen waren. Er kam auf mich zu. Ein schlanker Mann, groß und hellbraun in einem dunkelgelben Anzug und einem hellblauen Hemd.
    »Lemon«, sagte ich mit unaufrichtiger Begeisterung. »Wie geht’s dir, Mann?«
    »Ich lauf durch die Straßen und kein Gerichtstermin am Horizont«, sagte er. »Ich habe gut gefrühstückt und immer noch zwanzig Dollar in der Tasche.«
    Die Wörter und Bilder, die er verwendete, waren ein wenig ungewöhnlich, aber das kümmerte mich nicht.
    »Wie geht’s dir, LT ?«, fragte Sweet Lemon Charles.
    »Das Fieber geht langsam zurück.«
    »Du warst krank?«
    »Eine ganze Weile.«
    »Nichts Ernstes, hoffe ich.«
    »Nichts, was der Tod nicht regeln würde.«
    »Wow, Mann. Das klingt übel.«
    Sweet Lemon war um die fünfzig, hatte jedoch eine jungenhafte Ausstrahlung. Wahrscheinlich hatte er auch einen Taufnamen, aber den kannte keiner. Er war ein kleiner Gauner, der mit Informationen darüber handelte, was auf den Straßen los war, eine Art Westentaschenausgabe von Luke Nye, dem Billard-Hai, der praktisch alles wusste, was auf der dunklen Seite von New York und im nationalen – und internationalen – Umland passierte. Lemon war ein grundfröhlicher Mensch. Man konnte sich vorstellen, wie er auch inmitten eines Wirbelsturms die ganze Zeit lächelte.
    Zwei etwa dreißig Meter entfernt stehende Polizisten bemerkten uns. Einer zeigte in unsere Richtung, der andere starrte finster.
    »Was machst du denn hier?«, fragte ich den Straßeninformanten.
    »Ich verdien meine Miete und träum von besseren Tagen.« Wieder waren die Worte merkwürdig – irgendwie schräg.
    »Mistah?«, fragte eine Frau.
    Es war das blasse Kind aus dem Untergeschoss. Ich war einigermaßen erleichtert, dass sie tatsächlich existierte.
    »Den Tanz hatten wir schon, Mädchen.«
    »Hallo, Charlene«, sagte Lemon.
    »Hi, Sweetie. Was gibt’s Neues?«
    »Man hat Mick Brawn gefunden, in der Nähe der City Hall. Mit einer Ahle im Nacken.«
    »Einer Ahle?«
    »Ja, ich schätze, Eispickel werden kaum noch verkauft.«
    »Mickey, hmm?«, klagte die Prostituierte. »Dabei war er so nett, sanft wie ein Lamm.«
    »Wenn er nicht gerade seinem Job nachging«, fügte Lemon hinzu. »Ich hab gehört, er hat ein paar ziemlich Großen seine Feuer- und Muskelkraft zur Verfügung gestellt.«
    »Man kann nichts dafür, was man für seine Familie tun muss«, sagte Charlene. Ich war sicher, dass sie das oft sagte.
    »Nun, jetzt ist er tot. Seinen Vetter Willoughby hat es letzte Woche in Jersey City erwischt. Scheint die Runde zu machen.«
    »Hm-hm«, sagte Charlene. Sie blickte nach rechts, wo ein pummeliger Mann in einem verblichenen grauen Anzug stehen blieb, um von seiner Coke Zero zu trinken.
    »Entschuldigt mich«, sagte Charlene und schlenderte auf den halbherzigen Diäthalter zu.
    »Sie ist eine echte Kämpferin«, sagte Lemon, während wir ihr nachsahen.
    Die Polizei hatte uns immer noch im Blick.
    »Was treibst du so, Lemon?«, fragte ich. Das Fieber ließ langsam nach. Für den Augenblick genoss ich es, dort unter meinesgleichen zu stehen.
    »Lyrik«, sagte der Gauner.
    »Wie bitte?«
    »Ich studiere Lyrik.«
    »Du liest Gedichte?«
    »Nein … ich meine, ja, aber ich schreib auch welche.«
    »Du bist jetzt ein Dichter?«
    »Nicht direkt.«
    »Was soll das heißen, nicht
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