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Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern

Titel: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
Autoren: Annette Pehnt
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Patientensperre, der Warteraum, und drinnen dann die Geräusche, Elektronik, Messtechnik, es wird kaum gesprochen, aber auch kaum geschrien, wir dachten, es gäbe mehr Gestöhne und Geschrei, aber alles ist ganz ruhig. Nur die Schwestern reden mit normalen Stimmen, dies ist ihr Arbeitsplatz, und im Stationszimmer hängen Urlaubskarten, liegen Zigarettenpackungen und Zeitschriften für die Pausen, auch unsere Mutter hatte Zigarettenpackungen bereitliegen für die Pausen, aber das interessiert hier niemanden, es braucht ja auch keinen zu interessieren, man kennt sie hier nur als Sterbende, und als ich einer Schwester ein Bild hinhielt, wie sie aussah früher, damit Sie sich das vorstellen können, da waren wir in Italien, alle zusammen, letzten Herbst noch, da schaute die Schwester freundlich und hilflos auf das Foto, was sollte sie mit dieser Frau und einem Leben, das sich außerhalb abgespielt hatte und nun zu Ende ging. Was heißt früher, vor ein paar Wochen noch, mit frisch geschnittenen Haaren, im Nacken etwas angestuft, immer noch dunkel, die einzelnen weißen Haare riß die Friseuse aus und zeigte sie triumphierend, als hätte sie dem Altwerden noch einmal ein Schnippchen geschlagen.
    Warum müssen wir jetzt denn die weißen Kittel noch überziehen, es ist doch egal, aber wir tun es, weil wir es seit vier Wochen täglich tun, also können wir es ebenso gut auch jetzt tun, wir haben es sowieso noch nie verstanden, wozu diese Kittel, sie sind eine Verkleidung, damit du hineingehen kannst, damit du es schaffst, zu etwas anderem können sie kaum taugen, flatterig, wie sie sind.
    Wir klingeln wie immer, obwohl alle wissen, dass wir kommen, man hat uns ja angerufen, wir sollen kommen, obwohl es keiner so gesagt hat, was sie gesagt haben, war: Es gibt bei Ihrer Mutter eine rapide Verschlechterung, wollen Sie kommen? Müssen Sie wissen, aber Sie können jederzeit hinein, da wussten wir, dass sie stirbt, denn sonst geht das nicht, nur zwischen drei und sieben Uhr nachmittags, und das verstehst du doch auch, es kann nicht jeder ständig dort herumsitzen auf den Klappstühlchen, die Schwestern müssen ihre Arbeit tun, und Notfälle gibt es, die auf Liegen durch die Gänge donnern, von zwei Pflegern vorangetrieben, da kannst du eben nicht ständig neben deiner Mutter sitzen und Händchen halten, aber diesmal dürfen wir, sie machen uns auch gleich auf, und im Hintergrund hören wir, wie einer fragt, wissen Sie es schon. Da wissen wir es. Wir sehen uns kurz an und schauen verlegen wieder weg, es ist so, als hielten wir Hände wie Brüderchen und Schwesterchen, und mein Bruder hat einen Kittel mit Bündchen an den Handgelenken, und ich schaue rasch auf meine Ärmel, auch ich habe einen mit Bündchen, und jetzt wissen wir es.
    Ich wusste es, sage ich zu meinem Bruder, und das stimmt und stimmt nicht, denn obwohl ich damit gerechnet habe, wusste ich es nicht und denke: Wie geht das, ich habe das nicht geübt, ich weiß nicht, wie das geht, und auch mein Bruder weiß es nicht. Wir gehen zusammen hinein, fast Hand in Hand, wollen zu ihrem Zimmer, aber da ist sie ja nicht mehr, die Schwester nickt uns zu und wünscht herzliches Beileid und ob wir geistlichen Beistand wollen und unsere Mutter ist im Trauerzimmer. Das Trauerzimmer ist ein abgetrenntes Kämmerchen, die Technik ist mit einem dunkelblauen Tuch verhüllt, eine Kerze haben sie aufgestellt, mehr kannst du nicht verlangen, nein, wir wollen keinen geistlichen Beistand, oder? Wir drängen beide an ihre Seite, als käme es darauf an, wer schneller ist, da kommt schon wieder die Schwester mit ihrem Kulturbeutel, ihrem Ehering, ihrer schlichten kleinen Armbanduhr, ich lege Ihnen das hierhin, und wenn Sie Beistand brauchen. Danke. Wir brauchen Beistand, wir brauchen unsere Mutter, damit sie uns beisteht, das hat sie immer gemacht, und wenn sie es nicht genug gemacht hat, waren wir wütend, eigentlich hat sie es nicht gemacht oder nicht genug gemacht oder uns manchmal nicht genug, wir hätten uns gewünscht, dass sie es mehr gemacht hätte, wer war eigentlich mein Beistand, und wer ist es jetzt, vielleicht mein Bruder oder doch meine Mutter, ich schaue hin und sehe sie da liegen und weiß es nicht mehr, ich habe es schon vergessen, so wie ich alles vergessen habe, so wie meine Mutter alles vergessen hat auf diesem Totenbett im Trauerzimmer in diesem Keller, der keiner
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