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Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern

Titel: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
Autoren: Annette Pehnt
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nicht dass er es nicht könnte, er tut es einfach nicht. Anfangs dachten wir ja, er hätte vielleicht ein Sprachproblem, er fing erst mit zweiundhalb an zu sprechen, alle um ihn herum redeten den lieben langen Tag, und er stand immer dabei, legte den Kopf schräg und dachte sich seinen Teil.
    Es sind die Vögel, rief Rudi H., sonst ist er völlig in Ordnung, wir haben alles testen lassen.
    Herr H., sagte Dr. Kolk, Sie sollten dem Jungen Zeit geben. Eine ausgeprägte Zuneigung zu Tieren ist an und für sich nicht weiter besorgniserregend, und der Spracherwerb findet zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr statt, also da liegt Ihr Sohn völlig innerhalb der Norm.
    Ich wollte ihm einen Wellensittich kaufen, sagte Birgit H., zum Geburtstag. Wir waren in der Zoohandlung, er sollte sich einen aussuchen, und einen schönen Käfig. Ich stand mit ihm bei den Vögeln, Papageien haben sie auch und Beos. Der eine machte ein Geräusch wie ein tropfender Wasserhahn, täuschend echt. Georg ging ganz nah an die Käfige heran, ein Sittich hatte es ihm besonders angetan, so ein himmelblauer. Der hing mit seinen kleinen Füßen am Gitter, als wollte er gekrault werden, und gluckste. Du kannst doch den nehmen, sagte ich zu Georg, da hatte er schon nach oben gelangt, das Türchen aufgemacht und nach diesem Sittich gegriffen. Er wollte ihn herausholen, aber der Sittich wich zurück in die hinterste Ecke und machte sich ganz dünn. Georg rief, der soll raus, und der Zoohändler brüllte, was soll denn das, mach sofort den Käfig zu, und mir blieb nichts anderes übrig, als Georg ganz schnell aus dem Laden zu bringen.
    Du wolltest ihn befreien, sagte Dr. Kolk zu Georg.
    So kommen wir hier nicht weiter, sagte Rudi H., der immer wieder unruhig auf seine Armbanduhr schaute. Dr. Kolk zuckte mit den Schultern. Georg lächelte und ging zur Tür.
    9. Mittlere Höhe

    Am zehnten August neunzehnhunderteinundsiebzig, zwei Tage vor seinem sechsten Geburtstag, wurde Georg eingeschult. Am dritten Juni neunzehnhundertdreiundsiebzig wurden ihm die Mandeln und die Polypen entfernt. Vom zwölften bis zum achtzehnten Oktober neunzehnhundertvierundsiebzig fuhr er mit der Klasse Vier b in das Landschulheim Wyk auf Föhr. Am fünfzehnten August neunzehnhundertfünfundsiebzig kam er auf das Otto-Lilienthal-Gymnasium. Am achtzehnten August neunzehnhundertfünfundsiebzig beschloss er davonzugehen und ging davon.

    Birgit und Rudi H. fragten bei allen Krankenhäusern des gesamten Bezirks nach und erstatteten eine Vermisstenanzeige. Die Nachbarin, die Birgit H. auf der Wochenstation besucht, sich aber nicht weiter für Georg interessiert hatte, nachdem er bei einem der ersten Besuche unmissverständlich die Augen geschlossen hatte, gerade als sie mit ihm Kommt-ein-Mann-die-Treppe-hoch spielen wollte, brachte frische Schnittblumen und wollte ihn gesehen haben, auf dem Bahnhofsvorplatz mit einigem Gesindel. Birgit H. warf die Schnittblumen ins Spülbecken und schob die Nachbarin zur Tür hinaus.
    Die Grundschullehrerin wollte Georg auf dem Schulhof gesehen haben, das gebe es manchmal, deutete sie an, gerade bei schwierigen, bindungsarmen Kindern könne eine intensive, fast schon symbiotisch zu nennende Nähe zu den betreuenden Personen entstehen, die dann kaum aufzukündigen sei, der Schulwechsel sei Georg also nicht leichtgefallen, sie spüre das. Birgit H. ging ohne große Erwartungen auf den Schulhof, schaute hinter dem Fahrradständer und am Sportplatz, aber da sie ihren Blick auf Kindeshöhe schweifen ließ, konnte sie nirgends eine Spur von Georg erblicken.
    Die neue Lehrerin vom Otto-Lilienthal-Gymnasium unterrichtete die Kinder der Klasse Fünf c von Georgs Abwesenheit und bat um Hinweise, aber keiner hatte in den drei Tagen Georg überhaupt kennengelernt, sogar sein Tischnachbar konnte sich nur schemenhaft an ihn erinnern, der mit der spitzen Nase, sagte er nachdenklich, selbst überrascht, dass ihm nur so wenig einfiel, und alle kicherten, Spitznase, Spitzmaus, und freuten sich auf Georgs Rückkehr, dann konnten sie die neuen Namen ausprobieren. Sogar die Lehrerin musste in sich gehen, um sich Georg in Erinnerung zu bringen, gemeldet hatte er sich nie in diesen drei Tagen, gestört aber auch nicht, man könne nur hoffen, dass dem Kerlchen nichts Ernsthaftes zugestoßen sei. Birgit H. hatte die Kraft zu sagen, es sei
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