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Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern

Titel: Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
Autoren: Annette Pehnt
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die entspannte Sitzhaltung ist ergonomisch durchkalkuliert. Ich ziehe die Beine an den Körper und lege die Füße auf dem Nebensitz ab, die Schuhe kann ich nicht ausziehen, weil ich darauf gefasst bleibe, jede Sekunde erwischt zu werden. Ich darf nicht hier sitzen. Nach Wagen 7 kommt Wagen 8, nach Offenburg kommt Karlsruhe, das kleine Mädchen ist vielleicht schon ausgestiegen, und immer noch habe ich den Mund nicht gespült, da halten wir schon, ich habe kurz nicht aufgepasst, es kann sogar sein, dass ich eingenickt bin, ich kann die Durchsage nicht verstehen, ich erkenne auch den Bahnhof nicht, er sieht fremdartig aus, überbeleuchtet, der Bahnsteig schimmert in einem satten Marmorschwarz, die Fahrpläne wie Lichttafeln, ein Lichtspiel bei Nacht, dabei ist es doch heller Morgen, und wir müssten in Karlsruhe sein, ich richte mich auf und will zurück in den Gang, an die Arbeit, da schieben sich auf einmal Scharen neuer Fahrgäste ins Abteil, mehr als üblich um die Uhrzeit, eine Reisegruppe vielleicht, es scheinen nur Männer zu sein, und sie fädeln sich in die leeren Sitzgruppen und Sitzreihen, sie reden kaum, es ist still, das Abteil füllt sich in eigenartiger Geschwindigkeit und völliger Ruhe, und ich stehe halb aufgerichtet, halb eingeknickt hinter der Gepäckablage und schüttele den Kopf, um meine Ohren freizubekommen, in die vielleicht während des kurzen Nickerchens etwas eingedrungen sein könnte, und dann fällt mir ein, dass mein Kopfschütteln von den Fahrgästen missverstanden werden könnte, und ich nicke ihnen zu, aber niemand nickt zurück, niemand scheint mich überhaupt zu bemerken.
    Nun sehe ich, dass die zugestiegenen Fahrgäste sich unterhalten, zumindest bewegen sie die Lippen und gestikulieren, manche holen Handys aus ihren Taschen und sprechen hinein, aber ich höre nichts, keine Stimmen, keine Durchsagen, kein Zuggeräusch.
    Guten Tag, in Karlsruhe noch jemand zugestiegen, sage ich probehalber, aber niemand reagiert, Angst steigt in mir hoch, ich kann mir diese Stille nicht erklären, und fast ist es so, als sei ich auch noch unsichtbar geworden, ich gehe rasch durch den Gang ins Abteil 7, dort telefonieren noch immer alle, aber auch hier: völlige Stille, in die ich bang hineinhorche, ich höre meinen Herzschlag nicht und weiß nicht, wie das sein kann, etwas hört man doch immer, auch die Tauben hören doch wenigstens ihren eigenen Puls, wie soll ich so die Fahrkarten kontrollieren und den Zug begleiten, ich brauche jetzt eine Zugbegleiterin. Ich gehe ein paar Schritte Richtung vorderer Zugteil, weil dort mein Chef ist, der mir vielleicht erklären kann, was passiert ist, aber dann fällt mir ein, dass ich seine Erklärungen ja gar nicht würde hören können, ich weiche schnell wieder zurück und lasse mich auf einen Sitz fallen, irgendeinen, ich mache mir nicht die Mühe, ein Versteck hinter der Gepäckablage zu finden, ich sitze da und spüre eine heftige Angst, die sich wie ein Gummiring um meine Rippen legt und meine Finger mit einem Schlag kalt werden lässt, ich muss schneller atmen, um überhaupt Luft zu bekommen, ich öffne den Knopf meiner Bluse und fasse mit einer Hand an meinen Hals, so fest, wie es geht, ich nehme schlaffe Haut zwischen die Finger und presse sie, bis es schmerzt, weil ich hoffe, dass der Schmerz die Stille durchbricht. Dabei stoße ich an meine Sitznachbarin. Ich muss sie vorhin kontrolliert haben, aber ich kann mich an das Gesicht nicht mehr erinnern. Es ist schmal und straff, wie aus Leder genäht, und darin braune Augen und ein schmaler Mund, kein abfälliger Mund, alles ist schmal und konzentriert, und nun sehe ich, wie sich der Mund öffnet, und ich verziehe das Gesicht, weil eine heftige Angst mich ergreift, ich könnte sie nicht hören, aber der Mund fragt, geht es Ihnen gut, und ich höre jedes Wort und reiße die Augen auf und fange an zu lachen.
    Ja, sage ich und höre mich selbst nun auch wieder, auf einmal höre ich den Zuglärm wie ein gewaltiges Rauschen und das Donnern der Klimaanlage und Stimmen hin und her springen im Abteil, im nächsten Abteil, der ganze Zug redet und lacht, es klingelt, Schreien, Husten und über allem mein lauter, aufdringlicher Pulsschlag, ja, sage ich zu meiner Sitznachbarin, die mich unverwandt anschaut. Ich weiß nicht, wie alt sie ist, ich weiß nicht, warum sie den Blick nicht von mir
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