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Maler und Mädchen - Maler und Mädchen

Titel: Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
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auch ihren direkten Nachbarn einzubeziehen, der, in schräger Linie etwas höher als ihr Kopf, mit seinen halbverwesten Resten breitbeinig wie ein Faulenzer auf seinem Rad oben auf einem Pfeiler hockte. Aber der Maler war bereits mit ganzer Aufmerksamkeit bei der Arbeit, die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger, halb versteckt in seiner Handfläche.
    Also noch einmal, damit es nie mehr verschwindenkonnte: die Stricke um den Rock, die den Bauch einschnürten, noch einmal die Stiefelchen, die sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hat, noch einmal die Jacke und das runde Gesicht des Mädchens, das von hier aus betrachtet unendlich traurig aussieht, aber nach wie vor makellos ist, noch ganz ihr gehört. So, von der Seite, macht ihr rechter Arm noch viel auffallender diese Bewegung nach vorn, aktiv, als wolle er etwas, der Maler sah es sich gebannt an. Mit nur wenigen Strichen modellierte er die lebensechte Form des hilflos herabhängenden totenbleichen Händchens.
    Er und Elsje. Von oben, mit den Augen der Vögel betrachtet, die sie beide, während sie in der Luft kreisen, bereits eindeutig im Blick haben, wirken sie wahrscheinlich klein und eng miteinander verbunden. Aus großer Entfernung aufeinander zugereist. Und jetzt diese Szene. Die Begegnung eines sehr dummen Mädchens und eines Mannes, der absolut nicht weiß, wohin mit seinem Kummer, aber viel vom Malen versteht. Was sie verbindet, verdichtet sich in diesem Moment. Wie wenig es doch braucht, damit er fortdauert, nicht nur für kurze Zeit, sondern für immer.
    Eine kratzende Feder.
    Der Nachmittag schreitet voran. Das Licht um die beiden wird bereits etwas violetter und gelblicher. Das typische Licht eines Nachmittags Anfang Mai. Der Raum über ihnen ist still und unglaublich hoch, aber da sind eine Menge Vögel, die dann und wann in eine der tieferen Regionen fliegen, kreisend und schwebend auf der Suche nach Kost, um ihren Kropf zu füllen, oder einfach so, man weiß nicht, warum. Der Himmel gleicht langsam dem eines alten Altarbilds, doch der Maler achtet nicht darauf. Diese zweite Zeichnung, ebenfalls klein, kaum zwei mal drei Daumen, istnoch nicht fertig. Seeadler und Möwen müssen noch warten, was sie auch tun, dies ist ihre Welt, aus der das Mädchen nicht weglaufen wird. Doch vorläufig noch sitzt am Fuße des Schandpfahls ein alter Mann mit Hut, der zeichnet.
    Der Tag ist fast zu Ende. Er war lang. In der tiefstehenden Sonne segeln die Schiffe noch immer auf den Hafen zu oder kommen von dort. Der Maler mischt Tusche mit ein wenig Wasser. Er schaut zum wiederholten Mal zu dem Mädchen hoch und beugt sich dann wieder über das Papier auf dem Zeichenbrett. Mit einem flachen Pinsel gibt er den Falten um Elsjes Bauch und Beine, der Unterseite ihres Arms und der Seite ihres Gesichts vorsichtig, mit Hell und Dunkel spielend, Volumen.

 
    Die erste, die mich auf Elsjes Spur brachte, war die bedeutende Amsterdamer Historikerin I. H. van Eeghen. Im Zuge meiner Studien las ich ihren Artikel und sah die dazugehörige Reproduktion im Jaarboek van het Genootschap Amstelodamum . Jahre später begegnete ich dem Mädchen erneut in einem schönen Kapitel des Buchs von Geert Mak Amsterdam . Biographie einer Stadt . Der wirkliche Wegweiser zu Elsje aber war der Maler, dem dieser Roman, gemeinsam mit ihr, gewidmet ist.
     
    M. de M.

 
    Über die Autorin
     
    Margriet de Moor studierte Klavier und Gesang. Bereits ihr erster Roman Erst grau dann weiß dann blau (Hanser 1993) wurde ein sensationeller Erfolg, und ihre Bücher sind in alle Weltsprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen u.a. Der Virtuose (Roman, 1994), Herzog von Ägypten (Roman, 1997), Die Verabredung (Roman, 2000), Kreutzersonate. Eine Liebesgeschichte (2002), Sturmflut (Roman, 2006) und Der Jongleur (2008).
     
    Daten, Fakten, Jahreszahlen
     
    Margriet de Moor hatte Gesang, Klavier und Geschichte studiert, bevor sie 1988 mit dem Erzählungsband Rückenansicht (dt. 1993) debütierte. Ihre Bücher wurden für namhafte niederländische und internationale Preise nominiert; 1990 erhielt sie den AKO-Literaturpreis für ihren ersten Roman Erst grau dann weiß dann blau (dt. 1993), der in elf Sprachen übersetzt wurde. 1993 folgte Der Virtuose (dt. 1994), eine mit viel Musik und Leichtigkeit geschriebene Liebesgeschichte über eine Adlige und einen Kastratsänger im Neapel des 18. Jahrhunderts. Ihre universellen Themen und der gepflegte, spielerische Stil verschafften ihr großes Renommee bei
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