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Maler und Mädchen - Maler und Mädchen

Titel: Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
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Bordwand zur anderen. Auf den Booten und Kais ringsum wurde geschrien und gesungen, der übliche Wahnsinnslärm, ohne die geringste Verbindung zu der sehr stillen Barkarole, die sie nach wie vor hören konnte. Szenen, Orte, Momente, alle sehr nah. So nah, daß sie ihr noch ganz gehörten, daß sie noch gut zu ihnen hätte zurückkehren können, um zu fragen: Was geht da vor sich? Wo bin ich?
    An ihrem letzten Nachmittag, gestern, am Freitag, dem zweiten, hatte Elsje sich noch bis sechs Uhr in ihrer Zelle befunden. Sie hatte gefroren. Die beiden offenen Gitterfenster der Zellen standen über die Gangfenster in direkter Verbindung mit dem Innenhof, zu dem Wind und Wetter freien Zugang hatten. Am Tag zuvor hatte man ihr dort offiziell ihr Urteil verkündet, unter freiem Himmel, wie das Reglement es vorschreibt. Doch der Himmel war gar nicht frei gewesen, sondern geschlossen und grau vor Regenwolken, wie im übrigen schon während der ganzen Woche. Erst in der kommenden Nacht sollte er aufreißen für den morgigen sonnigen Tag.
    Genau wie alle Gefangenen vor ihr wanderte auch sie langsam über die Klinkersteine, mit denen der Zellenboden gepflastert war, vier Schritte der Länge, vier der Breite nach. Eine halbe Armlänge über ihrem Kopf ein ordentlich abgezogenes Rippengewölbe. Woran soll man in solchen Momentendenken? Am besten an gar nichts. Als sie zu dem Fenster links von der Tür kam, blieb sie stehen und schaute dabei nicht in den Gang vor ihrer Zelle, sondern nach unten. Diese tiefen Fensterbänke befinden sich, wenn man ein Gespür dafür hat, exakt auf der bequemen Höhe eines Tisches zum Schreiben. Sie beugte sich über den Stein, sah ein paar eingeritzte Striche und Krakel, schob ihr Häubchen auf die Seite und zog die kräftige Haarnadel, mit der ihr Knoten zusammengehalten wurde, heraus.
    Da sie nicht sofort wußte, was sie tun sollte, blieb sie mit der Nadel in der Hand über den Stein gebeugt stehen. Buchstaben, sah sie, und ansonsten ein paar von diesen eigensinnigen Verzweiflungszeichnungen, gerade und gebogene Linien, die man, so vereinfacht sie auch sind, sofort als Bäume und Blumen erkennt. Nicht ein einziger Vogel. Während das Haar ihr seitlich am Gesicht herunterfiel, begann sie zu ritzen.
    Den Damrak hinunterzufahren geht immer schnell. Der Fluß strömt von selbst zum IJ. Das kleine Boot war schon fast bei den Häfen angelangt. Rechts nur noch die letzten paar hohen Wohnhäuser der Warmoesstraat, die Westfassaden im Wasser. Aus den Fenstern von Küchen und Hinterhäusern beugten sich Dienstmädchen, sie kratzten Töpfe aus, schüttelten Federbetten auf, leerten einen Eimer Fischabfälle, einen Nachttopf, einen Kübel. Tüchtig zupackende Dienstmädchen in Strohpantoffeln. Geschickt, schnell von Begriff, ungebildet. Wenn sie ihren Namen schreiben müssen, malen sie ein Kreuz, und das genügt.
    Sie wußte es noch. Sie hatte bereits mit dem E begonnen. Soviel Unterschied es auch macht, ob man eine Schreibfeder oder eine Haarnadel zwischen den Fingern hält, wieanders es sich anfühlt, ob die Hand über Papier gleitet oder ein schlammfarbenes Stück Bentheimer Stein bearbeitet: Sie spürte sofort eine seltsame Vertrautheit. Es war die Vertrautheit wie in einem klaren Traum, Entfernung und Zeit spielen keine Rolle, was man erlebt ist wundersam bekannt, gehört zu einem, aber es geschieht alles außerhalb der Marge. Ihr Name also. Vier Buchstaben. Einst während eines Wirtshausbesuchs von einem Mann gelernt, noch jung, gerade eben nicht mehr als Junge zu bezeichnen, der seine Hand um die ihre gelegt hatte, während am Tisch neben ihnen ein Lied gesungen wurde, dem keiner von ihnen beiden lauschte. … De Leevde, ach … Ihre Finger wurden sehr kalt. Der Wind vom Innenhof zog wie immer unter den Gittern durch, Wärme aus der Vergangenheit kann dagegen nichts ausrichten. Ragnar war ein mordsverliebter junger Mann gewesen, hoch aufgeschossen und außerdem eine gute Partie, der fest vorhatte, sie glücklich zu machen. Elsje ritzte das leichte L und machte sich an das schwierige S . Es wurde sechs Uhr. Als der Gefängniswärter nach seinen Schlüsseln griff, um das Kind des Todes für den letzten Abend und die letzte Nacht in die Folterkammer zu bringen, war sie fertig, hatte sie mit ihren vier Buchstaben die vier Mauern einer Festung errichtet und sich mitten hineingesetzt. Sie erinnerte sich an Ragnar, sie erinnerte sich an sich selbst, und sie erinnerte sich an den nächsten Moment, unantastbar, ewig
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