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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall
Autoren: Dieter Woelm
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Schloss geschlafen, bis ich nicht mehr wusste, wohin. Dann bin ich in den Main gegangen, wollte von ihm meinen Namen wissen, aber er hat nichts gesagt, bis ein Dackel an mir gezerrt hat.«
    Ulrich Brenner sah mich fassungslos an. »Du warst zum zweiten Mal im Main? Diesmal freiwillig?«
    »Ja, leider. Der Fluss hat mich irgendwie angezogen. Ich weiß auch nicht, wie es genau gekommen ist. Wenn dieser Dackel nicht gewesen wäre …«
    »Der hat dir sozusagen das Leben gerettet. Eine tolle Geschichte!«, meinte Ulrich. »Was in Tieren manchmal steckt. Ich wünschte, sie könnten auch den Krebs besiegen.«
    Nachdem er das gesagt hatte, fiel er in sein Kissen zurück und war eine Zeit lang ganz still. Kurz darauf schien er nochmals alle Kräfte zusammenzunehmen. »Wenn du wieder einmal nicht weißt, wo du unterkommen sollst, geh einfach zu meiner Frau«, murmelte er kaum hörbar. »Ich werde es Isabell sagen, wenn sie mich morgen besucht. Wir haben ein Gästezimmer, dort kannst du wohnen.«
    »Aber das geht doch nicht«, wehrte ich ab. »Schon gar nicht, solange du nicht zu Hause bist.«
    Indes, er ließ nicht locker. Er winkte mich wieder ganz dicht zu sich, ich sah das unruhige Flackern in seinen Augen, sah die Schweißperlen auf seiner Stirn, roch seinen säuerlichen Atem und hörte, wie er sagte: »Versprich mir, dass du nicht mehr in den Main gehst! Versprich es mir in die Hand!«
    Dabei streckte er mir seine Hand hin und wartete, bis ich eingeschlagen hatte. »Du kannst Isabell vielleicht im Garten helfen«, flüsterte er zum Schluss noch, »ich konnte schon lange nichts mehr tun. Und die Kinder wünschen sich einen Hund. Dann hätten sie endlich einen.«
    So, als ob er jetzt seine Mission erfüllt hatte, sank er in sein Kissen zurück und schloss die Augen. Irgendwie bewunderte ich ihn. In ihm war so viel Kraft, obwohl er schwach war. Er wusste, wer er war und wofür er lebte. Und er gab Hoffnung, selbst in Momenten, in denen man um ihn bangen musste.
     
    Auf dem Rückweg in die Stadt grüßte mich schon von Weitem die Stiftsbasilika. »Komm zu mir!«, riefen ihre Glocken, die weit über Aschaffenburg hallten. »Komm zu mir, oh Fremder! Ich will dir Zuflucht bieten.«
    Sie wusste also, dass ich hier fremd war. Vielleicht wusste sie auch, wo ich herkam, vielleicht konnte sie mir mehr verraten, als ich dachte.
    Ich beschleunigte meine Schritte, vergrub meine Hände in den Manteltaschen, ging vornübergebeugt gegen den Herbstwind, der von der Stadt heraufwehte. Ich folgte dem Ruf der Glocken, die in meinem Herzen etwas anschlugen, das tief verborgen dort schlummerte. Taufen musste ich erlebt haben, vielleicht Hochzeiten, vielleicht Beerdigungen, denn die Glocken brachten in mir etwas zum Klingen, weckten Erinnerungen an die Vergangenheit, nach der ich suchte.
    Als ich an der Parkbank der Penner vorbeikam, waren es noch mehr geworden. Auch die Bank, auf der ich gesessen hatte, war jetzt, am späten Nachmittag, von ihnen belagert. Sie steckten die Köpfe zusammen und schienen erneut über mich zu reden. Daraufhin folgten mir wieder die beiden in ihrer Ledermontur, was mir auf eine Art unangenehm war, aber ich konnte es ja nicht ändern.
    Unterwegs kaufte ich zwei Brezeln, eine Dose Cola und eine Packung Hundefutter, das meine Manteltasche ausbeulte, als ich von der Dalbergstraße auf den Stiftsplatz trat. Das Kopfsteinpflaster hallte unter meinen Schritten. Einige Touristen hatten ihre Fotoapparate auf die nördliche Fassade der Stiftskirche gerichtet, andere stiegen die Freitreppe empor, um die Basilika zu besichtigen. Am Fuß der Freitreppe begrüßten mich St. Peter und St. Alexander auf ihren Sandsteinsockeln, die Patrone der Basilika. Sie hatten ihren Platz gefunden. Aber ich? Wo kam ich her? Wer war ich?
    St. Peter schaute mich nachdenklich an. Er schien es auch nicht zu wissen, auch in seinem dicken Buch, das er vor der Brust hielt, stand es wahrscheinlich nicht geschrieben. Also stieg ich die Treppe empor zum Haupteingang der Kirche. Die Penner blieben zum Glück zurück. Ich versteckte Oskar unter meinem Regenmantel und schob das schwere Hauptportal nach innen. Durch den Luftzug bewegten sich die Flügel des hölzernen Windfanges am Kircheneingang wie von Geisterhand. Es war wie der Eintritt in eine andere Welt. Das sanfte Licht des Kircheninneren, die Holzbänke rechts und links vom roten Teppich, die steinernen Figuren an den Säulen des Mittelschiffes und Christus an seinem Holzkreuz seitlich an der Wand,
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