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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall
Autoren: Dieter Woelm
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Zimmerdecke. Was war nur geschehen? Warum diese gähnende Leere in meinem Kopf? Ich kannte Aschaffenburg bestimmt nicht, wusste nicht, wie ich hierher gekommen war, konnte mir das alles nicht erklären und schlief erschöpft wieder ein.
     
    »In seinem Anzug war absolut nichts«, hörte ich irgendwann eine Stimme. Ärzte und Schwestern standen an meinem Bett. Ich sah sie zunächst wie durch eine Nebelwand, so als ob sie mich von einem anderen Stern besuchten.
    »Wirklich nicht?«, fragte erstaunt ein großer, hagerer Mann mit Nickelbrille, welcher der Chefarzt zu sein schien. Er blätterte in meiner Krankenakte und runzelte nachdenklich die Stirn.
    »Nein, nichts. Kein Geldbeutel, keine Papiere …«, antwortete eine kräftige ältere Krankenschwester mit glatten weißen Haaren.
    »Seltsam«, wunderte sich der Chefarzt. »War die Kripo schon da?«
    »Nein. Kommissar Rotfux hat bereits nachgefragt, aber ich sagte ihm, das sei für den Fremden noch zu viel«, antwortete die Schwester.
    »Gut so«, nickte der Chef zufrieden. »Soll sich erst mal erholen. Hallo! Hören Sie mich?«, sagte er zu mir und fühlte meinen Puls.
    »Ja, ich höre Sie«, antwortete ich leise und versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten.
    »Na prima«, freute er sich. »Wie heißen Sie denn eigentlich?«
    »Ich …, ich …«, stammelte ich verlegen, »ich kann mich leider nicht erinnern.«
    Jetzt war es heraus! Ich wusste nicht, wie ich hieß, versank vor Scham in meinen Kissen, so entsetzlich jämmerlich fühlte ich mich.
    »Das wird schon wieder«, tröstete mich der Chefarzt. »Man hat Sie aus dem Main gezogen. Sie können froh sein, dass Sie überhaupt noch leben!«
    Aber sein Trost half mir wenig.
    Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand auf der Welt vorstellen kann, wie es ist, wenn man seinen eigenen Namen vergisst. Ich hätte es mir auch nie vorstellen können. Doch genau das war passiert und ich musste damit fertig werden.
    »Nun schlafen Sie sich erst mal aus«, verabschiedete sich der Chefarzt. »Wenn alles klargeht, können Sie morgen die Intensivstation verlassen und wir verlegen Sie in die Neurologie. Dort werden wir Ihre Vergesslichkeit näher untersuchen.«
     
    Von Vergesslichkeit hatte er gesprochen. Aber war das wirklich nur Vergesslichkeit? Ich wusste doch absolut nichts mehr! Ich lag im Bett und versuchte krampfhaft, mich zu erinnern. Ich fragte mich, wer meine Eltern waren, ohne Erfolg. Wie ausradiert schien alles in meinem Hirn zu sein.
    Hatte ich Geschwister?
    Wann war mein Geburtstag?
    War ich verheiratet oder sogar Vater?
    Fragen über Fragen, nur keine Antworten. Je mehr ich nachdachte, umso verzweifelter wurde ich. Ich war geistig tot, ausgelöscht, erledigt, ein namenloses Nichts, das sich schämte, in diesem Krankenhaus zu liegen.
    Die Taschen meines Anzuges waren leer, jedenfalls hatte das die Schwester gesagt. Ich besaß also kein Geld, keinen Ausweis, keinen Namen, nichts. Einen Moment lang wünschte ich mir, dass die scharfzackigen, giftgrünen Kurven auf meinem Monitor flacher würden, dass sie in einer ruhigen geraden Linie auslaufen würden, ganz sanft, so wie ein Leben erlischt, das keinen Sinn mehr hat, so wie mein Leben, das mir ohne Vergangenheit so sinnlos vorkam.
    Wozu war ich noch gut?
    Was konnte ich?
    Welchen Beruf hatte ich erlernt?
    Verzweifelt versuchte ich, Antworten zu finden, aber jede neue Frage machte alles nur schlimmer.
     
    Am Nachmittag bekam Max Besuch. Eine nette Frau in einem hellblauen Kittel betrat unser Zimmer.
    »Besucher müssen auf der Intensivstation diese Umhänge überziehen und sich mit Desinfektionslotion die Hände waschen«, erklärte sie lächelnd, als sie meinen verwunderten Blick bemerkte.
    »Mein neuer Bettnachbar wäre um ein Haar im Main ertrunken«, stellte mich Max seiner Frau vor.
    »Ach was, Sie sind das?«, sagte sie. »Ich habe schon in der Zeitung davon gelesen. Hier – sehen Sie mal!«
    Sie hielt mir das Main Echo, die örtliche Tageszeitung, unter die Nase und deutete auf die Titelseite. ›Unbekannter fast im Main ertrunken‹, war dort zu lesen. Dazu ein Bild vom Ufer des Mains mit mehreren Feuerwehrautos, einem Krankenwagen und einem Polizeiauto.
    »Im Innenteil bringen sie einen längeren Bericht. Sie können ihn gern lesen«, sagte Max’ Frau und ihre Augen leuchteten. Es schien so, als ob sie sehr stolz darauf war, dass ausgerechnet sie mich hier im Krankenhaus angetroffen hatte. »Lesen Sie ruhig«, wiederholte sie lächelnd und reichte mir
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