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Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen

Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen

Titel: Maigret - 66 - Maigret in Künstlerkreisen
Autoren: Georges Simenon
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zu erwähnen.
    Es schien ein ruhiger Tag zu werden. Nichts als Papierkram. Verwaltungstechnische Fragen waren zu regeln, Unterschriften zu leisten. Alles Routine.
    Zum Mittagessen fuhr er nach Hause. Seine Frau, das fiel ihm auf, sprach die Fahrstunden nicht von sich aus an. Für sie war es, als würde sie in fortgeschrittenem Alter wieder zur Schule gehen. Einerseits machte es ihr Spaß, ja, sie war sogar ein wenig stolz darauf, andererseits war es ihr ein bisschen peinlich.
    »Bist du nicht auf dem Bürgersteig gelandet?«
    »Warum fragst du das? Ich bekomme noch Minderwertigkeitskomplexe …«
    »Nein, nein. Du wirst sicher eine ausgezeichnete Fahrerin, und ich kann den Moment kaum erwarten, wo du mich an die Loire kutschierst …«
    »Bis dahin vergeht noch ein guter Monat.«
    »Hat das dein Fahrlehrer gesagt?«
    »Die Prüfer werden immer strenger, und es ist besser, nicht beim ersten Mal durchzufallen. Heute sind wir auf die äußeren Boulevards gefahren. Ich hätte nie gedacht, dass dort so viel Verkehr ist und dass die Leute so schnell fahren. Es ist geradezu, als ob …«
    Na, so was! Es gab Hühnchen, genau wie bei der Frau vorhin im Bus.
    »Woran denkst du?«
    »An meinen Dieb.«
    »Hast du einen Dieb festgenommen?«
    »Nein, festgenommen habe ich ihn nicht, aber er hat mir meine Brieftasche stibitzt.«
    »War die Dienstmarke drin?«
    Auch sie dachte als Erstes an die Dienstmarke. Das würde ein gewaltiges Loch in die Haushaltskasse reißen. Dafür würde er eine neue erhalten, bei der die Bronze nicht durchschimmerte.
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Genauso, wie ich dich sehe.«
    »War es ein alter Mann?«
    »Nein, ein ganz junger. Ein Anfänger. Er sah aus, wie wenn …«
    Unwillkürlich kreisten Maigrets Gedanken mehr und mehr um den Unbekannten. Das Gesicht verblasste keineswegs in seiner Erinnerung, vielmehr sah er es immer deutlicher vor sich. Plötzlich kamen ihm lauter Einzelheiten in den Sinn, die er vorher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. So erinnerte er sich jetzt, dass der junge Mann dichte Augenbrauen hatte, die zu einem wahren Balken zusammengewachsen waren.
    »Würdest du ihn wiedererkennen?«
    Im Laufe des Nachmittags kehrten seine Gedanken ein Dutzend Mal zu dem Unbekannten zurück. Dann hob er den Kopf, blickte zum Fenster hinüber, als hätte er ein schwieriges Problem zu lösen. Irgendetwas stimmte nicht an dieser Geschichte, an diesem Gesicht, an dieser Flucht, aber er wusste nicht, was es war.
    Jedes Mal hatte er das Gefühl, gleich würde eine weitere Einzelheit in seinem Gedächtnis auftauchen, die alles erklären könnte. Doch dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit.
    »Einen schönen Abend, Kinder …«
    Er verließ sein Büro um fünf vor sechs, während im Nebenraum noch ein halbes Dutzend Inspektoren zurückblieben.
    Maigret ging mit seiner Frau ins Kino. In einer Schublade hatte er eine alte braune Brieftasche gefunden, die für seine Gesäßtasche zu breit war, so dass er sie in sein Jackett stecken musste.
    »Wenn du sie in dieser Tasche gehabt hättest …«
    Wie immer kehrten sie Arm in Arm nach Hause zurück. Die Luft war auch jetzt noch mild. An jenem Abend empfand er nicht einmal den Benzingeruch als unangenehm. Auch er gehörte zum anbrechenden Frühling, genauso, wie zum Sommer unweigerlich der Geruch nach halbgeschmolzenem Teer gehörte.
    Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne, und Maigret frühstückte am offenen Fenster.
    »Es ist schon sonderbar«, sagte er, »manche Frauen fahren mit dem Bus durch halb Paris, um ihre Einkäufe zu machen …«
    »Vielleicht wegen der Verbrauchertipps …«
    Stirnrunzelnd sah er seine Frau an.
    »Jeden Abend sagen sie im Fernsehen, wo es Sonderangebote gibt …«
    Darauf wäre er nie gekommen! So einfach war das. Wie lange hatte ihn dieses kleine Rätsel beschäftigt, das seine Frau im Handumdrehen lösen konnte!
    »Ich danke dir.«
    »Hilft dir das weiter?«
    »Jetzt brauche ich nicht länger darüber nachzudenken.«
    Mit philosophischer Gelassenheit fügte er hinzu, während er schon seinen Hut aufsetzte:
    »Die Gedanken lassen sich nicht immer so steuern, wie man will …«
    Die Post stapelte sich auf seinem Schreibtisch. Zuoberst lag ein dicker brauner Umschlag. Sein Name, sein Dienstgrad und die Adresse am Quai des Orfèvres waren in Blockschrift gemalt.
    Noch bevor er den Umschlag aufriss, wusste er, was er enthielt. Jemand schickte ihm seine Brieftasche zurück. Gleich darauf sah er, dass nichts fehlte, weder
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