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Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht

Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht

Titel: Maigret - 55 - Maigret vor dem Schwurgericht
Autoren: Georges Simenon
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noch in der Erinnerung existierten. Waren es wirklich dieselben Menschen, die Concierges, Passanten und Lieferanten, die dort mit leerem Blick auf den Sakristeibänken saßen?
    War das immer noch derselbe Mann, der nach monatelanger Untersuchungshaft auf der Anklagebank saß?
    Plötzlich erschien diese ganze Welt unpersönlich, ganz alltägliche Sätze verloren mit einem Mal ihre Gültigkeit, und selbst die einfachsten Tatsachen wurden in unverständlichen Formeln ausgedrückt. Die schwarzen Talare der Richter, der Hermelin, die rote Robe des Generalstaatsanwalts bestärkten noch diesen Eindruck einer strengen und genau festgelegten Zeremonie, bei der der Einzelne nichts zählte.
    Trotz alledem führte Bernerie die Verhandlungen mit einem Höchstmaß an Geduld und Menschlichkeit. Er drängte die Zeugen nicht, ihre Aussagen abzuschließen, und schnitt ihnen nicht das Wort ab, wenn sie sich in überflüssigen Einzelheiten verloren. Bei anderen, strengeren Richtern hatte Maigret zuweilen aus lauter ohnmächtiger Wut die Fäuste geballt.
    Selbst heute war ihm bewusst, dass er von der Wirklichkeit nur ein unklares, lebloses Bild entwarf. Alles, was er sagte, entsprach der Wahrheit, aber er konnte die Dinge nicht in ihrer Bedeutung, in ihrer Komplexität darstellen, weder das Gefühl, das sie hervorriefen, noch ihren Geruch.
    So hielt er es beispielsweise für unerlässlich, dass diejenigen, die über Gaston Meurant urteilen sollten, die Atmosphäre der Wohnung am Boulevard de Charonne kannten, wie er sie vorgefunden hatte.
    Seine Beschreibung in zwei Sätzen sagte nichts. Von Anfang an hatte ihn die Wohnung des Ehepaars beeindruckt, in diesem großen Haus, in dem viele Familien mit Kindern lebten und das gegenüber dem Friedhof lag.
    Wessen Geschmack spiegelten Stil und Einrichtung der Wohnung? Im Schlafzimmer gab es kein richtiges Bett, sondern ein von Regalen umgebenes Ecksofa, ein sogenannter cosy-corner. Das Sofa war mit orangefarbenem Satin bezogen.
    Maigret versuchte sich den Handwerker vorzustellen, der den ganzen Tag hinten im Hof in seiner Werkstatt Bilderrahmen anfertigt und abends nach Hause kommt und diese Atmosphäre vorfindet, die an Interieurs erinnert, wie man sie in entsprechenden Zeitschriften findet, eine fast ebenso gedämpfte Beleuchtung wie in der Rue Manuel, zu leichte, zu glänzende Möbel, blasse Farben …
    Dennoch standen Meurants Bücher in den Regalen, ausschließlich bei den bouquinistes oder an den Quais antiquarisch erstandene Exemplare: Krieg und Frieden von Tolstoi; achtzehn Bände der Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs in einer alten Ausgabe, die schon nach moderigem Papier roch; Madame Bovary von Flaubert; ein Buch über wilde Tiere und gleich daneben eine Geschichte der Religionen …
    Das ließ auf ein gewisses Bildungsbedürfnis schließen. Im selben Raum gab es Frauenzeitschriften, Illustrierte, Filmmagazine, Unterhaltungsromane, die sicher die geistige Nahrung Ginette Meurants bildeten, wie auch die Schallplatten neben dem Plattenspieler, auf denen nur Schnulzen waren.
    Womit beschäftigten sich die beiden abends und an Sonntagen? Worüber unterhielten sie sich? Welche Gesten waren ihnen eigen?
    Maigret war sich darüber im Klaren, dass es ihm auch nicht gelungen war, eine genaue Vorstellung von Léontine Faverges und ihrer Wohnung zu vermitteln, in der einst angesehene Herren, die zugleich Familie hatten, heimlich zu Besuch kamen und diskret hinter dichten Vorhängen placiert wurden, um zu vermeiden, dass sie sich begegneten.
    »Ich bin unschuldig. Sie waren schon tot …«
    Im Gerichtssaal, in dem es so voll war wie in einem Kino, klang das wie eine verzweifelte Lüge, denn in den Augen der Öffentlichkeit, die den Fall nur aus den Zeitungen kannte, und sicher auch in den Augen der Geschworenen war Gaston Meurant ein Mörder, der sich, ohne auch nur einen Moment zu zögern, an einem kleinen Mädchen vergriffen hatte, der zunächst versucht hatte, es zu erwürgen, dann nervös geworden war, weil es ihm nicht schnell genug ging, und es schließlich mit Seidenkissen erstickt hatte.
    Es war erst kurz vor elf, aber hatten die Anwesenden überhaupt noch irgendeinen Zeitbegriff, war ihnen ihr Leben außerhalb des Gerichtssaals überhaupt noch bewusst? Unter den Geschworenen waren ein Vogelhändler vom Quai de la Mégisserie und ein Installateur, der selbständig war und zwei Angestellte hatte.
    War unter ihnen auch jemand, der eine Frau wie Ginette Meurant geheiratet hatte
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