Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch
Autoren: Jutta Mehler
Vom Netzwerk:
zur Dienststelle kommen will, um ›mitzumischen‹. Nur heute nicht.« Ihr Blick wurde freundlicher. »Heute fährt er nach dem letzten Vortrag in Regensburg nach Deggendorf zum Donauhotel, wo er sich mit uns trifft.« Sie sah auf die Turmuhr der Himmelfahrtskirche. »In einer guten halben Stunde wird er da sein. Und wir werden die Zeit bis dahin nutzen.«
    Geschlagen öffnete Sprudel die Beifahrertür seines Wagens für Fanni.

    Der Klettergarten lag genauso ausgestorben da wie gut drei Stunden zuvor, als Fanni dort eingebogen war, um zu pinkeln.
    Zögernd betrat sie den Pfad, der zum Zustieg führte, folgte ihm bis zu dem Felswändchen. Aber diesmal kletterte sie nicht hinauf. Sie stand da, schaute hierhin und dorthin.
    »Fanni«, sagte Sprudel hinter ihr, »wo willst du suchen? Da oben ist nur Felsen und hier unten nur dichtes Gestrüpp.«
    Fanni schlug sich links in die Büsche.
    Sie arbeitete sich durch die Sträucher, bis sie den Ort erreichte, der – wie sie vermutete – senkrecht unter der Stelle lag, an der Willi Stolzer hängen geblieben war. Halbhohe Büsche, Farne und scharfkantiges Gras bedeckten den Boden.
    Sprudel holte auf. »Glaubst du, von hier aus hat jemand Stolzer erschreckt, sodass er losließ? Mit einem Schuss vielleicht?«
    Fanni schüttelte den Kopf. »Willi hätte wegen eines Krachens oder Polterns nicht losgelassen, nie und nimmer. Selbst wenn Steine von oben heruntergeprasselt wären, hätte er nicht losgelassen. Im Gegenteil, er hätte sich umso konzentrierter festgehalten und versucht, aus dem Quergang herauszukommen – nach rechts hinüber zu den Leitern oder nach links in die Felsführe.«
    »Hier war ja auch niemand«, sagte Sprudel, »eine Spur durch das Gestrüpp wäre den Kriminaltechnikern bestimmt nicht entgangen.«
    Fanni stimmte ihm zu, machte aber keine Anstalten, den Platz zu verlassen. Sie bog Zweige zur Seite, brachte Farnwedel zum Schwingen, ließ den Blick über die Graspolster wandern.
    »Lass uns zurückgehen«, sagte Sprudel.
    Fanni schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Nach drei Schritten sah sie hinter einer Wurzel etwas glänzen. Sie griff zu.
    »Ein Fotoapparat«, sagte Sprudel überrascht. Gleich darauf schüttelte er den Kopf. »Der kann schon wochenlang da liegen.«
    »Dann wäre er nass«, widersprach Fanni. »Ich habe vorhin versucht, mich zu erinnern, und bin ziemlich sicher, dass es bis zehn Uhr geregnet hat. Ungefähr um eins habe ich Willi gefunden. Und ich denke, dass er nicht lang davor abgestürzt ist. Er muss gewartet haben, bis es wenigstens nicht mehr von den Sträuchern und Felsen heruntergetropft hat, sonst wäre seine Kleidung auch nass gewesen. Fragt sich, wieso er überhaupt …«
    Sie schnappte nach Luft und griff nach einem Zweig, als müsse sie sich festhalten. »Wenn das Willis Fotoapparat ist, weiß ich, weshalb er die Seilversicherung losgelassen hat.«
    »Wir sollten die Kamera der Polizei übergeben«, sagte Sprudel.
    »Das werden wir«, erwiderte Fanni. »Sie wartet vermutlich schon im Donauhof auf uns.«

    Marco saß brütend über einer Tasse Kaffee.
    Ich mag ihn wirklich gern, Lenis Freund, dachte Fanni, als er nach einer kurzen Begrüßung wieder in Schweigen verfiel. Auf meiner VIP-Liste rangiert er gar nicht weit hinter Sprudel, aber manchmal wünsche ich mir, er wäre etwas impulsiver.
    Ganz vorne auf Fannis VIP-Liste befanden sich ihre Zwillinge Leni und Leo, gefolgt von ihrer Tochter Vera und deren Kindern Max und Minna. Dann kam Sprudel. Und dann? Marco? Hans Rot?
    Ha, Hans Rot auf der VIP-Liste! Gehört er nicht eher in ein Verzeichnis der ebenso nützlichen wie belanglosen Gegenstände? Rangiert er nicht irgendwo zwischen Waschmaschine und Schraubenzieher?
    Nein, dachte Fanni. Hans Rot ist der Mann, den ich geheiratet habe, weil ich es so wollte. Und du hältst jetzt den Rand, Wichtel.
    In letzter Zeit hatte sie sich hin und wieder verwundert gefragt, aus welcher Schicht ihrer Innenwelt diese freche Gedankenstimme kam, woher sie ihre Kommentare bezog, bis ihr eines Tages beim Abstauben der Bücherregale eine Abhandlung von C. G. Jung in die Hände gefallen war. Sie hatte darin geblättert, hatte diesen und jenen Absatz gelesen und sich plötzlich an den Begriff »Kollektives Unbewusstes« erinnert, der von Jung geprägt worden war. Während sie ihren Staubwedel weiter über Bücherrücken gleiten ließ, hatte sie sich vorgestellt, wie allen Menschen aus einer Art universeller Einsicht intuitive Erkenntnisse
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher