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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch
Autoren: Jutta Mehler
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zuflossen.
    Jung, hatte Fanni beim Staubwischen gedacht, vertrat die Meinung, dass die sich ähnelnden Grundmotive der Märchen und Mythen unterschiedlichster Völker auf jenes gemeinschaftliche Wissen hinwiesen. Und schmunzelnd hatte sie entschieden, dass ihre Gedankenstimme einem dieser Archetypen gehören sollte, die Jung entwickelt hatte – warum nicht einem Wichtel. Einem Wichtelzwerg, der vorlaut war, unverschämt und frech, der manchmal streng war, manchmal witzig, oft aber den Nagel auf den Kopf traf.
    Marco studierte den Inhalt seiner Kaffeetasse.
    »Hast du dich bei deinen Kollegen schon über den Fall informiert?«, fragte Fanni.
    Marco nickte und schwieg.
    Ohne Leni, sagte sich Fanni, ist es schier unmöglich, Marco zum Reden zu bringen, solange die Sache, um die es geht, in seinem Hirn noch nicht die richtige Form angenommen hat. Mit Leni an seiner Seite löste Marco dieses Kommunikationsproblem dadurch, dass er in ihr Ohr raunte, was in ihm vorging. Leni hatte keine Skrupel, das Gehörte vernehmlich hinauszuposaunen, sodass es Marco ebenso gut selbst hätte laut aussprechen können. Doch das brachte er halt nicht fertig. Er brauchte Leni als Katalysator.
    Aber jetzt ist sie nicht da, und deshalb wirst du das Gespräch in die Hand nehmen müssen! DU hast den Jungen ja auch herbestellt!
    Fanni begann zu sprechen. Sie ließ nichts aus, verschwieg auch den Grund nicht, weshalb sie zum Klettergarten abgebogen war. Zu guter Letzt legte sie den in ein Papiertaschentuch eingeschlagenen Fotoapparat auf den Tisch.
    Marco hütete sich, ihn anzufassen. Mit seinem Kugelschreiber drückte er auf ein, zwei Tasten, bis ein Bild auf dem Display erschien. Fanni reckte den Hals. Es zeigte bunte Lichtpunkte, die auf den Metallleitern zu tanzen schienen.
    »Wusst ich’s doch«, rief Fanni. »Er hat losgelassen, um zu fotografieren. Deshalb hatte er auch keinen Helm auf, weil der ihm ein wenig hinderlich gewesen wäre. Und deshalb hat er eine kurze Bandschlinge benötigt.«
    Eifrig nahm sie Marcos Kaffeelöffel und legte beide Hände nebeneinander um den Stiel. »Der Kletterer überwindet einen Quergang, indem er seine Fußsohlen an den Felsen presst und sich – nachdem er die beiden Karabiner seines Klettersteigsets ins Drahtseil eingehängt hat – mit den Händen daran entlanghangelt. Falls er loslässt, rutscht er ab, wird freilich, ungefähr einen halben Meter weiter unten, durch die beiden Bandschlingen seines Sets aufgefangen. Was aber sollte ein Kletterer tun, der es sich in den Kopf gesetzt hat, mitten im Quergang zu fotografieren? Er muss das Drahtseil loslassen, will sich jedoch nicht ein hübsches Stück darunter in der Felswand baumelnd wiederfinden.«
    »Er hängt eine armlange Bandschlinge ein und legt sein Gewicht nach außen, sodass Zugkraft darauf wirkt. Mit den Füßen stützt er sich ab«, sagte Marco.
    Fanni nickte zufrieden. »Willi hat von jeher spektakuläre Fotos geschossen.«
    »Du kanntest Willi Stolzer gut?«, fragte Marco.
    Fanni unterdrückte ein Stöhnen und begann zu erzählen, wie sich die Bergsteiger-Clique nach und nach zusammengefunden hatte. Sie schloss mit den Worten: »’88 waren wir komplett. Ich weiß noch, dass wir nach diesem ersten Jahr gemeinsamer Bergtouren Giselas zwanzigsten Geburtstag gefeiert haben – sie war mit Abstand die Jüngste von uns – und bald darauf ihre Hochzeit mit Willis Bruder Toni.« Erst nach einer Weile merkte sie, dass Marco noch auf etwas wartete.
    Kanntest du Willi Stolzer gut?, lautete die Frage!
    Fanni begann von Neuem. »Wenn man«, erklärte sie, »mit jemandem jahrelang in die Berge geht, mit ihm Nase an Nase in Hüttenlagern übernachtet, den letzten Rest in der Wasserflasche mit ihm teilt, ihn aufgekratzt und abgekämpft erlebt, dann lernt man ihn recht gut kennen.«
    »Und wie war Willi Stolzer so?«, fragte Marco.
    »Okay.«
    »Okay?«, tönte das Echo fragend aus zwei empört verzogenen Mündern.
    »Ich finde, dieses eine Wort sagt alles.«
    »So, so«, meinte Sprudel.
    Fanni sah ihn geradezu mütterlich an. »Schau«, sagte sie, »Willi war schlicht und einfach in Ordnung. Er hatte keine Macken, keinen Tick. Willi war realistisch, vernünftig, klug, umsichtig, geschickt. Wir alle kamen gut mit ihm aus.« Sie wartete, bis Sprudel einverständlich genickt hatte, dann fuhr sie fort: »Ich habe ihn aber etliche Jahre nicht mehr gesehen. Wer weiß, was inzwischen geschehen ist. Er kann sich natürlich verändert haben.«
    »Wieso hast du ihn
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