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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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wie andere wählen, will ich draußen oder will ich drinnen sein, ich war Außenseiterin von Natur aus.
    Für Großvater war ich sicherlich auch ein Glück. Bei mir musste er nicht den Herren spielen. Diesen Herren Daniel Eglin, der seinen Meister noch zu Kaisers Zeiten gemacht hatte, den Familientyrannen, kannte ich durchaus. Das Grollen und Getöse in der Werkstatt, freitagmittags, wenn der Lehrling die Leimfarbe nicht ordentlich ansetzte. Das schreckliche Zeremoniell am Monatsanfang, wenn Vater oder Mutter die Miete fürs Geschäft und die Wohnung bei ihm ablieferten, eine horrende Summe – wie ein böser König saß er hinter seinem Schreibtisch. Das war ein ganz anderer als mein Großvater, der vom Schlossberg, der so völlig losgelöst von seinem früheren Leben war, ein schläfriger, herzlicher Mensch, ganz frei. Einer, der seinen Stock tanzen lassen konnte, der sang. «Jetzt gang i ans Brünnele, trink aber nit.» Er hatte eine wundervolle Stimme, das fand nicht nur ich. Vor langer Zeit war ihm der badische Sängerring verliehen worden. Sonntags musste er hoch oben auf dem «Michel», der Chorempore des Münsters, für den lieben Gott singen.
    «Für wen singst du lieber, Großvater? Für Gott oder für mich?»
    «Für beide. Gott hat dich geschickt. Und wenn ich nicht schon vorher für ihn gesungen hätte, hätte ich deinetwegen damit angefangen.»
    Abends hatte Großvater seine Gebetsstunde, das zweite von mir ersehnte Ereignis am Tag: Kurz nach fünf ruft er. Meist habe ich mich schon vorher vom Spielen losgerissen und die Hände gewaschen. Zum Großvater geht man ordentlich, darauf achtet Mutter streng, nicht mit Kies in der Schürzentasche, und pünktlich. Ich hocke mich auf das Schemelchen zu seinen Füßen, neben die Kirschbaumkommode, derweil Großvater mit dem Beten beginnt. Er betet lange und ganz leise, so lange, bis ich alle Fransen der Decke, die von der Kommode runterbaumeln, durcheinandergezupft habe, und ich kaue auf dem mir zugereichten Rosenkranz. Ohne sich um mich zu kümmern, flüstert Großvater weiter. Dann holt er aus seinem Stapel ein ganz besonderes Gebetbuch.
    «So, jetzt rufen wir den Judas Thaddäus an. Für dich, Magdalena.»
    Für mich. Wie schön, dass es einen Heiligen für mich gibt. Dieser Thaddäus, was so viel heißt wie «der Beherzte», erzählt Großvater, ist ein Mann, der «in Armenien geboren» ist, zuständig für die besonders hoffnungslosen Fälle auf der ganzen weiten Welt. Zum Schluss machen wir beide das Kreuzzeichen, er legt den Zwicker beiseite, und dann kommt der große Moment, dann tritt diese weite Welt auf den Plan: Hokuspokus Fidibus, auf dem Tisch erscheint die gelbgrüne Schmuckdose von Bader-Brezele. Darin verwahrt Großvater seine Post, all die Briefe und Ansichtskarten, die sich in seiner Wanderzeit angesammelt haben. Nach der Gesellenprüfung war er über Österreich ziemlich weit nach Südosten gewandert, genau kenne ich seine Route bis heute nicht, auf jeden Fall ist er in der Schweiz gewesen, auch in Oberitalien.
    «Guck, das ist Wien.» Seine Stimme hüpft. «Ein große Stadt. Viel, viel größer als Freiburg.» Und hält mir die Postkarte unters Licht. Darauf kann ich verschwommen einen riesigen bunten Kreis erkennen.
    «Das ist das Riesenrad im Prater. Und das ist München. Das Oktoberfest. Da musst du nicht hin, Strubele. Da saufen die nur Bier.»
    Wenn Großvater das meint, nun gut, München muss nicht unbedingt sein. Aber reisen, reisen werde ich eines Tages. Entgegen den Vorhersagen der anderen, die immer sagen: «Magdalena bleibt daheim, bei Mutter!» Warum denn? Mit Großvater bin ich doch jeden Abend am Lago Maggiore. Unsere Postkartenreisen enden immer auf der Isola Bella. «Isola Bella im Lago Maggiore» singt er, das ist ein Schlager, den er als junger Mann von dort mitgebracht hat. Obwohl ich mir keinerlei Vorstellung von der Insel und dem See mit seinen palmengesäumten Ufern machen kann, beschäftigen sie mich. Auf dem Karlsplatz kenne ich eine gelbe Bank, postgelb oder quittengelb. Darüber wölbt sich im Herbst das rostgelbe Blätterdach der Kastanien und noch eine Etage drüber der blaue Himmel, das war meine «Isola Bella», und der Platz ringsherum war mein Lago Maggiore.
    Um diese Zeit ungefähr, mit vier, entdeckte ich auch den Nutzen von Bildern. Bilder konnte ich ganz nahe ans Auge nehmen und drehen und darauf herumschauen, so lange, wie ich wollte. Aus dem Schrank holte ich mir Vaters Zigarettenbilderalben, wieder eine
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