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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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neue Welt, einen ganzen Winter und noch ein Frühjahr verbrachte ich damit. «Maler des Barock» und «Maler der Renaissance» hießen die Bände. Vater sammelte, er qualmte die Bildchen buchstäblich zusammen mit Zigaretten, Marke «Salem». Je mehr er rauchte, desto mehr Augenfutter für mich. Natur und Geschichte, Katastrophen. Auf den geschichtlichen Bildern waren viele Brände, vor denen habe ich Angst gehabt. Wundersam und erregend waren die Gesichter, Köpfe von Madonnen oder aus der Antike. Beim Betrachten begriff ich, wie verschieden Nasen und Augen sind. Oder Münder, sie waren voll oder schmal, kurz oder lang, geschwungen wie der Rand eines Eichenblatts, mal herzförmig, manche sieht man kaum. Ein Mund kann das Rot von Radiesle haben, von Kirschen oder ähnlich gefärbt sein wie Nüstern des Pferdes vom Eismann, die ich einmal gestreichelt habe. Was ist eine ernste Miene, was ist ein Lächeln? Was unterscheidet Lächeln und Lachen? Lachen kannte ich immerhin als Geräusch, das schallende Lachen meiner Mutter und ihr mädchenhaftes Kichern, Vaters unterdrücktes Glucksen und das dreckige Hahachächääää von seinem Kumpel Willi, mein eigenes Lachen natürlich, das den Erwachsenen, wie sie sagten, «zu laut» war, «für Mädle unpassend». Aber wie Lachen sich im Gesicht zeigt, das wusste ich nicht.
    Das Lächeln, dieses stille, kleine Verziehen der Mundwinkel, lernte ich erst jetzt, durch die Zigarettenbilderalben, kennen. An eines, das ein Mädchen mit einem blauen Turban zeigt, erinnere ich mich besonders. Ein sehr helles Gesicht. Große Augen, der Mund ganz leicht geöffnet, als ob sie im nächsten Augenblick etwas Liebes zu jemandem sagen wollte. Es muss das Mädchen mit dem Perlenohrring von Vermeer gewesen sein. Einige wesentliche Ausdrücke des Gesichts kannte ich nun und merkte sie mir: Wie es aussieht, wenn ein Mensch furchtbar traurig ist oder sehr, sehr glücklich, milde gestimmt oder böse.
    «Der guckt jetzt bös», sagte Mutter einmal im Freibad von einem Buben, den ich nass gespritzt hatte. Wie geht das, das böse Gucken? Sieht der jetzt aus wie der Goliath? Dieses Bild aus Vaters Album – es ist von Caravaggio – ging mir lange Zeit nicht aus dem Sinn: David, fast noch ein Kind, nicht älter als mein Vetter Leo, in seiner Hand der abgehauene, schwebende Kopf. Sein Mund ist grässlich verzerrt, die Augen sind verdreht. Das also war «bös». Schrecklich! Nachts träumte ich von dem Riesen Goliath, und ich bemühte mich seitdem, ihn zu überblättern. Vielleicht würde er ja eines Tages aus dem Album herausspringen?
    Mit Hilfe der Bilder habe ich eine ganze Reihe von Rätseln lösen können, zum Beispiel wie Buben pinkeln. Unterwegs, draußen im Freien, musste ich mich hinhocken, Peter nicht. Er nestelte immer an seiner Hose herum. Wieso kann der im Stehen spritzen? Woher der Strahl genau kam, war für mich nicht zu erkennen. Das erfuhr ich durch Apoll – auf den Abbildungen der römischen Statuen konnte ich die Anatomie des Mannes von Kopf bis Zeh studieren. Zwischen den Beinen fand ich das mir fehlende Teilchen. Den Namen dazu verriet Mutter mir: «das Pinkele», das Wort war nicht gerade eine Sensation. «Pinkeln» kannte ich doch längst!
    In der Wirklichkeit habe ich zu keiner Zeit einen nackten Mann in Gänze und voller Schönheit sehen können. Mit vier oder fünf und noch ziemlich lange glaubte ich, niemand könnte dies. Manche ein wenig besser als ich, das schon, anderer Leute Äugle waren stärker, meine eben schlechter, wie es große und kleine Äpfel gab, verschieden lange Arme oder Würste. Nur eines irritierte mich zunehmend: Wenn ich heimlich und leise etwas Verbotenes tat, wussten die anderen es trotzdem. Wieso schauen die mich immerzu an, mir nach?
    Zum ersten Mal sah ich meine Eltern, ihre Gestalt, ihre Gesichter. Dieses Foto in Händen zu halten und zu betrachten ist ein unvergesslicher Moment. Wir drei beieinander: Vater im hellen Trenchcoat, aus dem ein Schlips herausguckt, ein stattlicher Mann, mit glattem, beinahe schwarzen Haar, ein Bürstenbärtchen auf der ausnahmsweise rasierten Haut (ich kannte nur das Stacheltier). Er hat ein Kind im weißen Mäntelchen im Arm, das nur ich sein kann. Und ich, das Kind, verziehe den Mund. Meine kleine Mutter lächelt unter einem ausladenden Hut, unter dem sich das blonde lockige Haar, von einer Dauerwelle gebändigt, herausringelt, auch sie ausgehfein. Ein schönes Paar, Else und Johann – aber sie umarmen einander
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