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Maengelexemplar

Titel: Maengelexemplar
Autoren: Sarah Kuttner
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Ich möchte Max erst richtig vermissen. Ich wünsche mir eben knallharte Ansagen von meinen Gefühlen.
    Und die bekomme ich.
    Mitten in der Nacht.
     
    Ich wache gegen drei Uhr morgens auf und kann nicht atmen. Mein Herz schlägt sich die Wände wund in meinem Brustkorb, mein Körper brennt, und ich stecke mitten in einem Sturm. Das Monster in mir hat sich heimlich angeschlichen und mich im Schlaf übermannt. Das ist aber nicht die feine englische Art, denke ich entrüstet, aber dann muss ich mich um mein Überleben kümmern. Ich denke an Mama, die sagt, dass ich keinen Herzinfarkt habe, sondern einen Panikanfall. Ich darf also nicht den Notarzt rufen, sondern muss wieder alleine mit der Scheiße dealen. Ich atme routiniert. Ich gehe nur im Schlüpfer auf den Balkon. Aber das Monster kennt meine Waffen, und es hat sich vorbereitet.
Komm mir nicht mit so Esomüll!,
lacht es mich aus, und die Angst lärmt weiter durch meinen Körper. Ich möchte rennen, bloß weg von hier. Aber ich kann nicht weglaufen. Und selbst wenn ich es könnte, wovor überhaupt? Und wo genau wäre ich sicher? Ich konzentriere mich sehr stark darauf, dass ich in Sicherheit bin, dass mir nichts passieren kann. Aber so funktionieren Panikanfälle wohl nicht. Obwohl es um mich herum ganz still ist, tobt in mir Krieg.
    Ich weine nicht. Dafür ist jetzt kein Platz und keine Zeit. Ich gehe auf wackligen Füßen ins Bad und suche meine blauen Tabletten. Wie ein Junkie lasse ich zitternd die erste fallen. Die zweite trifft ihr Ziel, und ich wanke zurück ins Bett und zähle die Streifen auf meiner Bettdecke. Meine Ohren rauschen, mein Herz beruhigt sich nicht. Ich versuche, alle Bundesländer aufzuzählen, um mich abzulenken, aber mein Inneres ist übergegenwärtig, es lässt sich nicht verdrängen. Es pocht auf sein Recht auf Aufmerksamkeit.
You gotta fight for your right to party,
zitiert es gehässig.
    Ich mache mich im Bett ganz klein. Ich rolle mich so winzig, dass ich bei der Deutschen Post nicht mehr als zehn Euro im Versand kosten würde. Und ganz langsam wirkt die Tablette.
     
    Am nächsten Morgen ist nichts besser, alles ist ab heute anders: Die Angst hat mich endgültig wieder.
    Ich wache auf und fühle mich porös. Ich weiß, dass ich mir nicht mehr vormachen kann, die Attacke wäre nur eine Ausnahme gewesen, ein unangenehmer, ungeplanter Zwischenfall in meinem Kopf. Niemand wird bei mir anrufen und sagen:
Hallo, Frau Herrmann, hier Müller aus Ihrer Schaltzentrale. Uns ist da etwas Dummes passiert, der neue Praktikant hat gestern Abend versehentlich ein paar Kabel vertauscht, wir bitten um Entschuldigung, dass es deshalb zu ein paar kleinen Irritationen bei Ihnen gekommen ist. Das wird nicht wieder passieren!
    Nein, ich muss einsehen, dass irgendetwas einfach nicht in Ordnung ist. Ich bin verrückt, und ich brauche Hilfe. Ich habe verloren. Ich habe alles falsch gemacht im vergangenen Jahr. Der perfekte Schauspieler in mir hat das Drehbuch mit dem Arbeitstitel »Geistige Heilung« so gut umgesetzt, dass ich ihm glaubte.
    Und nun rückt mir die Realität den Kopf schief und belehrt mich eines Schlechteren.
    Und nicht nur das, wenn ich mir so überzeugend weismachen kann, dass alles wieder gut wäre, wie soll denn dann jemals wirklich alles wieder gut werden? Ich wünschte, ich wäre dümmer, weniger in der Lage, so zu tun, als ob. Ich will ein schlechter Mime, ein schlechter Lügner sein, ich will wieder ganz sein, bittebitte.
    Ich merke, dass ich drauf und dran bin, komplett durchzudrehen, also nehme ich meine Zigaretten und Beine in die Hand und verlasse das Haus. Egal, wohin, ich muss weg von mir. Ziellos geistere ich durch die nähere Umgebung und weine und rauche.
    Ich rufe Anette an. Heule auf ihren Anrufbeantworter.
    Rufe Max an und heule auch auf seinen Anrufbeantworter.
    Und schließlich rufe ich in der Praxis von meiner Psychiaterin Frau Dr. Kleve an, obwohl ich weiß, dass sie irgendwo ein Kind stillt. Ich will ihre Vertretung. Ich atme tief durch und spreche mit der Sprechstundenhilfe.
    »Frau Herrmann! Na, Sie waren ja lange nicht mehr hier, nicht? Wie lange ist es her? Ein Dreivierteljahr?«, zwitschert sie ins Telefon.
    Ich sage ihr, dass es mir nicht so gut geht, seit ich die Tabletten abgesetzt habe, und dass ich gern einen Doktor sehen möchte.
    »Oh, Sie haben den neuen Doktor noch gar nicht kennengelernt, stimmt’s? Nun, heute sieht es leider schlecht aus mit Terminen. Der Herr Doktor hat viel zu tun. Wie schlimm ist es
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