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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Autoren: Muriel Spark
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Erwartung und waren nicht neugierig, was Selina gerettet hatte oder was sie da trug. Sie kletterte auf den Sitz der Toilette, schlüpfte durch das Fenster und zog rasch und geschickt den Gegenstand hinter sich her. Nicholas hielt ihr die Hand entgegen, um ihr zu helfen. «Ist es sicher hier?» fragte sie, als sie auf dem Dach gelandet war und überprüfte dabei den Zustand des von ihr geretteten Gegenstandes. Haltung ist vollkommenes Gleichgewicht – es war das Schiaparelli-Kleid. Der Kleiderbügel baumelte von ihm herab wie ein Hals und ein paar Schultern ohne Kopf.
    «Ist es hier oben sicher?» wollte Selina wissen.
    «Nirgends ist es sicher», sagte Nicholas.
    Als Nicholas später über diese blitzschnelle Szene nachdachte, war er nicht sicher, ob er damals unfreiwillig das Kreuz geschlagen hatte. In der Erinnerung schien es ihm so gewesen zu sein, auf alle Fälle hatte Felix Dobell, der wieder auf dem Dach erschienen war, ihn erstaunt angeschaut und später behauptet, daß Nicholas sich bekreuzigt habe, in abergläubischer Erleichterung darüber, daß Selina gerettet war.
    Sie lief zur Dachluke des Hotels hinüber. Felix Dobell trug Tilly auf seinen Armen, denn obgleich sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, war sie zu schwer verletzt, um gehen zu können. Er trug sie zur Dachluke des Hotels. Vor ihm schritt Selina mit ihrem Kleid, sie hatte es – um es zu schützen – gewendet.
    Aus dem Fensterspalt kam ein neuer Laut, schwach hörbar nur, denn Wasser rauschte unausgesetzt aus den Schläuchen, Mörtel und glosendes Holz prasselten laut in den Untergeschossen des Hauses, und oben an der Dachluke bei den Rettungsarbeiten riefen Stimmen durcheinander und Mauersteine fielen herunter. Dieser neue Laut schwoll an und ab, eine von verzweifelten Hustenanfällen unterbrochene Litanei. Es war Joanna, die mechanisch den Abendpsalm des 27. Tages mit den Responsen hersagte. Die Lautsprecherstimme rief:
    «Sagt ihnen, sie sollen von der Dachluke forttreten da drin. Wir sind gleich durch, sie kann nach innen einstürzen. Sagt den Mädchen, sie sollen von der Dachluke wegtreten.»
    Nicholas kletterte zum Fenster hinauf. Sie hatten die Anordnung gehört und drängten sich schon vor dem Fensterspalt der Toilette, ohne das Gesicht des Mannes zu beachten, das dort immer wieder auftauchte. Wie hypnotisiert scharten sie sich um Joanna, und auch sie selbst schien wie unter Hypnose die seltsamen Worte für den 27. Tag nach anglikanischem Ritus hervorzubringen, die auf alle Umstände des menschlichen Lebens anwendbar zu sein schienen, in diesem besonderen Augenblick, da in London die Arbeiter schwerfällig durch den Park heimkehrten, mit Neugier die Wagen der Feuerwehr in der Entfernung betrachteten, da Rudi Bittesch in seiner Wohnung in St. John’s Wood saß und vergeblich versuchte, Jane anzurufen, um sie ‹privat zu Sprechen›, da gerade die Labour-Regierung geboren war und anderswo auf der Erde Menschen schliefen, nach den Befreiungs-Rationen anstanden, die Busch-Trommel schlugen, vor Bomben Schutz suchten oder auf einem Jahrmarkt Autoscooter fuhren.
    «Haltet euch weg von der Dachluke, kommt ganz nahe ans Fenster», schrie Nicholas.
    Die Mädchen drängten sich noch mehr in dem Toilettenraum zusammen. Jane und Joanna, die beiden größten, stiegen auf den Toilettensitz, um den anderen Platz zu machen. Nicholas sah, daß alle Gesichter schweißüberströmt waren. Joannas Haut, die er nun so nah vor Augen hatte, schien plötzlich von großen Sommersprossen bedeckt zu sein, so als hätte die Angst gewirkt wie sonst die Sonne. Die blassen Sommersprossen, die für gewöhnlich kaum zu sehen waren, leuchteten jetzt wie große, goldene Flecken auf ihrer vor Angst blutlosen Haut. Durch das Getöse der Zerstörung kamen die Verse und der Respons von ihren Lippen:
     
    Der Herr hat Großes an uns getan;
    des sind wir fröhlich.
    Herr, bringe wieder unsre Gefangenen, wie du
    die Bäche wiederbringst im Mittagslande.
    Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
     
     
    Warum und in welcher Absicht fühlte sie sich getrieben, in diesen Versen zu schwelgen? Sie kannte sie auswendig, und sie war seit langem ans Deklamieren gewöhnt. Aber warum in dieser Notlage und so als hätte sie Zuhörer? Sie trug einen dunkelgrünen Pullover und einen grauen Rock. Die anderen Mädchen, die Joannas Stimme mechanisch lauschten, so wie sie es immer getan hatten, waren möglicherweise deswegen weniger aufgeregt und zitterten weniger, gewiß aber
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