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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Autoren: Muriel Spark
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bahnte sich ihren Weg durch die Gruppe, die dicht beisammen stand und sie ohne Widerstand durchließ. Sie waren stumm, nur Tilly schluchzte tränenlos und krampfhaft. Ihre Augen wie die der anderen waren vor Angst weit aufgerissen und starr auf Nicholas gerichtet.
    «Die Männer kommen und brechen die Dachluke auf. Sie werden jeden Augenblick hier sein», sagte Nicholas. «Kann nicht noch irgendeine von Ihnen durchs Fenster kommen? Ich helfe dabei. Schnell, je eher, desto besser.»
    Joanna hielt ein Zentimetermaß in der Hand. Irgendwann, nachdem die Feuerwehrleute festgestellt hatten, daß die Dachluke fest vermauert war, hatte Joanna in den beiden oberen Schlafzimmern gekramt, dieses Metermaß gefunden und damit die Hüftweiten der übrigen zehn mit ihr Eingeschlossenen gemessen, sogar die der allerhilflosesten, um festzustellen, wie groß ihre Chancen waren, durch den siebzehn Zentimeter breiten Fensterspalt zu entkommen.
    Es war im ganzen Club bekannt, daß zweiundneunzig Zentimeter der äußerste Hüftumfang war, der sich durch den Fensterspalt hindurchzwingen ließ, aber da das mit einer ganz bestimmten Bewegung der Schultern seitwärts geschehen mußte, kam es sehr auf den Knochenbau an und darauf, ob das Fleisch und die Muskeln im einzelnen Fall schmiegsam genug waren und sich leicht zusammenpressen ließen oder ob sie zu fest waren, wie bei Tilly. Aber außer ihr hatte keine der auf dem oberen Stock zurückgebliebenen Frauen auch nur annähernd die Proportionen von Selina, Anne oder Pauline Fox. Einige waren kräftig gebaut. Jane war dick. Dorothy Markham, die bislang ohne Mühe zum Sonnenbaden durch das Fenster schlüpfen konnte, war jetzt im zweiten Monat schwanger. Ihr Bauch hatte um einen festen und widerspenstigen Zentimeter zugenommen. Joannas Versuch, sie alle zu messen, hatte etwas von einem wissenschaftlichen Ritual in einem hoffnungslosen Fall: irgend etwas wurde getan, und schon das brachte eine leicht beruhigende Ablenkung.
    «Es wird nicht mehr lange dauern», sagte Nicholas, «die Männer kommen schon.»
    Die Fußspitzen ins Mauerwerk der Wand gebohrt, hielt er sich an der Fensterbrüstung fest und blickte zum Rand des flachen Daches hinüber, wo die Feuerleitern angelegt waren. Hintereinander kamen jetzt Feuerwehrmänner mit Spitzhacken die Leitern herauf, und schwere Drillbohrer wurden nach oben gehievt.
    Nicholas sah zurück in die Toilette. «Sie kommen jetzt. Wohin ist Selina gegangen?»
    Niemand antwortete.
    «Kann das Mädchen da nicht durchs Fenster kommen?» fragte er und meinte Tilly.
    «Sie hat’s schon einmal versucht und ist steckengeblieben», sagte Jane. «Das Feuer prasselt wie verrückt da unten. Das Haus kann jeden Augenblick einstürzen.»
    Auf dem schrägen Dach über den Köpfen der Mädchen schlugen die Spitzhacken wütend aufs Mauerwerk ein, nicht in gleichmäßigem Arbeitsrhythmus, sondern in dem des verzweifelten Dreinschlagens bei drohender Gefahr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Pfiffe ertönten und eine Lautsprecherstimme den Feuerwehrleuten befehlen würde, das Haus zu verlassen, weil der Einsturz unmittelbar bevorstand. Nicholas hatte seinen Halt losgelassen, um sich die Situation von außen anzusehen. Tilly erschien jetzt am Fensterspalt und versuchte zum zweitenmal hindurchzugelangen. Er erkannte in ihr das Mädchen, das vor der Explosion im Fenster gesteckt hatte und zu dessen Befreiung man ihn herbeigeholt hatte. Er rief ihr zu, sie solle es lieber lassen, anstatt noch einmal steckenzubleiben und ihre mögliche Rettung durch die Dachluke zu gefährden. Aber sie war wild entschlossen und schrie sich gellend Mut zu. Schließlich gelang das Unternehmen doch. Nicholas zerrte sie heraus und brach ihr dabei einen Hüftknochen. Als er sie niederlegte, wurde sie ohnmächtig.
    Er zog sich noch einmal zum Fenster hoch. Die Mädchen drängten sich zitternd und stumm um Joanna und starrten hinauf zur Dachluke. Irgendein größeres Stück Mauerwerk stürzte langsam in den unteren Teil des Hauses und Rauch ringelte sich jetzt oben an der Decke der Toilette. In diesem Augenblick sah Nicholas Selina durch den raucherfüllten Gang kommen. In ihren Armen trug sie sorgfältig irgend etwas ziemlich Langes, Weiches und offensichtlich Leichtes. Er hielt es für einen menschlichen Körper. Sie drängte sich zwischen den Mädchen hindurch und hustete leicht, als die ersten Rauchschwaden sie im Gang erreichten. Die anderen starrten vor sich hin. Sie zitterten in quälender
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