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Mädchen im Moor

Mädchen im Moor

Titel: Mädchen im Moor
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein Ton kam aus ihr heraus, kein Stöhnen oder Seufzen. Sie lag da wie ein Klumpen Fleisch, sah und hörte und war doch tot.
    Fiedje ergriff wieder das Paddel und stakte den Kahn in den Schilfwald hinein.
    »Du bist verrückt! Du bist total verrückt!« zeterte Elga und wartete darauf, daß der Boden des Fahrzeuges von einer Wurzel aufgeschlitzt wurde. »Du bringst uns alle ins Unglück!«
    Nach dreißig Metern schrie Elga auf. Auch Fiedje zuckte zusammen und umklammerte das Paddel.
    »Da!« schrie Elga und sprang auf. »Da liegt sie! Mein Gott! Mein Gott! Sie lebt nicht mehr –«
    Bis zu der kleinen, festen Weideninsel zu kommen, war eine Sache von wenigen Minuten. Vorsichtig drehte Fiedje den Körper Vivians auf den Rücken. Er sah in ihre offenen, fragenden Augen, sah das Zittern ihrer Lippen, spürte das schwache Leben in ihr.
    »Sie lebt noch!« brüllte er. Dann benahm er sich wirklich wie ein Irrer … er drückte Vivian an sich, schüttelte sie, schöpfte das faulige Wasser aus dem Sumpf und schüttete es über ihr Gesicht, rannte zum Boot zurück, holte eine Flasche mit kaltem Tee und zwang sie, die Flüssigkeit zu trinken.
    Es war vergeblich. Der Tee lief aus der Mundhöhle wieder heraus. Sie hatte nicht mehr die Kraft, zu schlucken, der Körper weigerte sich, noch Funktionen auszuführen.
    Mit Elga trug er Vivian in den Kahn, und Elga bettete den Kopf des Mädchens in ihren Schoß, deckte ihre Schürze über Vivians Gesicht, damit die grelle Sonne sie nicht noch mehr verbrannte, und hielt ihre Hand fest, als wolle sie sagen: Spürst du das Leben, in das wir jetzt hineinfahren?
    Wie ein Rasender stieß Fiedje den Kahn zurück aus dem Satansland. Keuchend, mit weit aufgerissenem Mund, trieb er das Boot aus dem Sumpf heraus, ließ es in den engen Seitenkanal gleiten und ruderte dort, schweißüberströmt und in allen Muskeln zitternd, dem großen Kanal entgegen, der einzigen Straße in das Leben.
    Nach einer Stunde streckte sich plötzlich der Körper Vivians. Ihre Hand fiel aus dem Griff Elgas, ihr Leib wurde flach und schwerer als zuvor, die Fußspitzen fielen zur Seite, in die Haut floß Kälte und gelbliche Farbe.
    Langsam, fast zärtlich nahm Elga die Schürze vom Gesicht Vivians und sah in die starren, gläsernen Augen. Mit der flachen Hand drückte sie die Lider herab und deckte dann die Schürze wieder über das leblose Antlitz.
    »Wir haben Zeit, Fiedje –«, sagte sie langsam. Und dann begann sie zu weinen und legte die Hände über das verdeckte Gesicht Vivians. »Du brauchst nicht mehr mit dem Tod um die Wette zu laufen. Er hat gesiegt –«
    Fiedje ließ sich erschöpft auf die Sitzbank fallen und zog die Stechstange ein. Unter dem Vorhang des von der Stirn rinnenden Schweißes starrte er auf die langgestreckte Gestalt im Schoß Elgas und faltete die Hände.
    »Aber wir haben sie geholt«, sagte er so leise, als könne er sie aufwecken. »Sie ist nicht im Moor geblieben. Sie wird ein anständiges Christengrab haben.«
    Das schwarze Boot glitt lautlos über den dunklen Kanal. Fast wie eine Barke, die über den Styx gleitet, dem Fluß der Unterwelt, den alle Toten überqueren müssen.
    Vivian v. Rothen wurde in aller Stille in der elterlichen Gruft beerdigt. Die Leiche war nach einer eingehenden gerichtsmedizinischen Untersuchung freigegeben und in den Heimatort überführt worden. Holger v. Rothen benachrichtigte nur die nächsten Anverwandten, auch seine Frau. Aber am Tage des Begräbnisses war sie nicht da; es vermißte sie auch niemand. Dafür stand der alte, gute Freund Vivians am Grabe, Sigi Plattner, und warf einen großen Strauß roter Rosen auf den Sarg. Holger v. Rothen fand diesen letzten Gruß rührend, wie eine späte Liebeserklärung sah er aus. Er hätte Sigi Plattner am Grabe mit eigenen Händen erwürgt, wenn er die wahren Zusammenhänge gekannt hätte. So aber verlief die Beerdigung ohne Skandal und in würdevoller Ruhe, und es zeigte sich einmal wieder, wie verlogen das Leben ist und wie heuchlerisch das Sterben.
    Am nächsten Tag wurde auf dem Friedhof eine große Frau beobachtet, die am Grabe Vivians ein großes Herz aus weißen Rosen niederlegte. Sie verharrte einige Minuten vor dem großen Blumenhügel, weinte und verließ dann unerkannt den Friedhof. Für Helena v. Rothen war diese Stunde die Wende ihres Lebens. Sie wollte sie allein vollziehen, nicht unter den neugierigen, saugenden Blicken der anderen oder unter den spöttischen Reden ihres Mannes. Der Tod Vivians, der
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