Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Titel: Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Autoren: Gustave Flaubert
Vom Netzwerk:
sieben ins Collège zurückbrachte, noch vor dem Essen. Jeden Donnerstagabend schrieb er einen langen Brief an seine Mutter, mit roter Tinte und drei Siegeloblaten; dann sah er seine Geschichtshefte noch einmal durch oder las in einem alten Band des Anacharsis , der im Arbeitssaal herumlag. Bei den Spaziergängen redete er mit dem Diener, der vom Land kam wie er.
    Durch beständigen Fleiß hielt er sich stets im Klassenmittel; einmal bekam er sogar ein erstes Accessit in Naturgeschichte. Doch am Ende der Tertia nahmen seine Eltern ihn vom Collège, damit er Medizin studiere, überzeugt, er könne es allein schaffen bis zum Bakkalaureat.
    Seine Mutter mietete ihm ein Zimmer, im vierten Stock, über der Eau-de-Robec, bei einem Färber aus ihrer Bekanntschaft. Sie verhandelte Kost und Logis, besorgte Möbel, einen Tisch und zwei Stühle, ließ von zu Hause ein altes Bett aus Kirschbaumholz kommen und kaufte außerdem ein gusseisernes Öfchen, nebst dem Holzvorrat, der ihr armes Kind wärmen sollte. Am Ende der Woche fuhr sie weg, nach tausend Ermahnungen, sich anständig aufzuführen, denn jetzt war er sich selbst überlassen.
    Das Verzeichnis der Vorlesungen, das er am Anschlagbrett las, machte ihn schwindlig: Vorlesung in Anatomie, Vorlesung in Pathologie, Vorlesung in Physiologie, Vorlesung in Pharmazie, Vorlesung in Chemie und dazu noch Botanik und Klinik und Therapeutik, ganz zu schweigen von Hygiene und Arzneimittelkunde, lauter Namen, deren Etymologien er nicht kannte und die vor ihm aufragten wie Tore zu Heiligtümern voll erhabener Finsternis.
    Er begriff nichts; auch wenn er noch so aufmerksam zuhörte, er verstand kaum etwas. Obwohl er lernte, Hefte mit schönem Umschlag besaß, alle Vorlesungen besuchte, keine einzige Visite versäumte. Sein tägliches kleines Pensum erfüllte er wie ein Dressurpferd, das mit verbundenen Augen im Kreis läuft und nicht weiß, welche Arbeit es da verrichtet.
    Um Ausgaben zu vermeiden, schickte ihm seine Mutter jede Woche mit dem Boten ein Stück Kalbsbraten aus dem Rohr, den er am Morgen aß, wenn er vom Hospital kam, und zum Aufwärmen stampfte er mit den Füßen gegen die Wand. Anschließend musste er in den Unterricht laufen, in den Hörsaal, ins Hospiz und hinterher durch all die Straßen wieder zurück. Abends, nach dem kärglichen Essen bei seinem Vermieter, ging er hinauf in sein Zimmer und setzte sich nochmal ans Lernen, in feuchten Kleidern, die vor dem glühenden Ofen an seinem Körper dampften.
    An schönen Sommerabenden, wenn die lauen Straßen verlassen sind und Dienstmägde vor den Haustüren Federball spielen, öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Der Fluss, der aus diesem Viertel von Rouen ein widerwärtiges kleines Venedig macht, strömte tief unter ihm, gelb, violett oder blau, zwischen seinen Brücken und seinen Rechen. Arbeiter hockten am Ufer und wuschen sich die Arme im Wasser. An Stangen, die oben aus den Speichern ragten, trockneten Stränge Baumwollgarn in der Luft. Gegenüber, jenseits der Dächer, erstreckte sich der weite klare Himmel, mit der untergehenden roten Sonne. Wie angenehm es dort sein musste! Wie kühl im Buchenhain! Und er blähte die Nüstern, um die ländlichen Wohlgerüche einzuatmen, die nicht bis zu ihm drangen.
    Er magerte ab, wurde größer, und sein Gesicht bekam einen leidenden Ausdruck, der machte es fast interessant.
    Ganz unabsichtlich, aus Nachlässigkeit, löste er sich mit der Zeit von all den guten Vorsätzen, die er gefasst hatte. Einmal versäumte er die Visite, am nächsten Tag die Vorlesung, und da er das Faulenzen genoss, ging er schließlich überhaupt nicht mehr hin.
    Er gewöhnte sich an, im Wirtshaus zu sitzen, und spielte mit Leidenschaft Domino. Jeden Abend in einem schmutzigen öffentlichen Lokal zu verbringen und dort kleine, mit schwarzen Punkten bemalte Schafsknochen auf Marmortische zu knallen schien ihm ein kostbarer Beweis seiner Freiheit und steigerte seine Selbstachtung. Es war eine Art Einführung in die Welt, der Zugang zu verbotenen Freuden; und wenn er beim Eintreten die Hand auf den Türknauf legte, spürte er fast sinnliche Lust. Viele in ihm unterdrückte Dinge entfalteten sich nun; er lernte Couplets auswendig, die er bei Festgelagen sang, begeisterte sich für Béranger, konnte Punsch zubereiten und erlebte endlich die Liebe.
    Dank dieser Vorarbeiten fiel er mit Pauken und Trompeten durch die Prüfung zum Sanitätsbeamten. Am Abend desselben Tages erwartete man ihn zu Hause und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher