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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman
Autoren: Martin Smaus
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alles wiederholte sich, der Kreis schloss sich, und Andrejko fühlte sich erneut wie der kleine Junge, der neben Onkel Fero saß und mit ihm an einen Ort fuhr, an dem sich die Sonne schon am Nachmittag versteckte, er saß in dem gleichen Nachtzug auf derselben Strecke, und die Erde raste erneut nach hinten, Bäume, Berge, Ortschaften, Bahnhöfe und Haltestellen huschten am Fenster vorbei, die Stahlräder trommelten den gleichen holperigen Rhythmus auf die Gleise, es klang wie ein Pferd, das durch eine Winternacht galoppiert und dessen Hufe das Eis erklirren lassen und über den hart gefrorenen Acker donnern   …
     
    |331| Unvermittelt rüttelte ihn jemand an der Schulter: Pass- und Zollkontrolle, Ihre Dokumente, bitte!, verlangte eine dröhnende Stimme. Andrejko blinzelte und wischte sich mit seinem schmutzigen Ärmel über die Augen. In der Abteiltür stand ein Zollbeamter in grauer Uniform, und Andrejko fürchtete, dass sie gestern Abend in Humenné den falschen Zug erwischt hatten, dass er schon wieder alles durcheinandergebracht hatte, er sprang vom Sitz, aber der Zöllner war im Weg und trommelte mit den Fingern auf das Köfferchen, das er vor dem Bauch trug. Ihre Dokumente, Reisepass oder Personalausweis, leierte er ungeduldig herunter, und Andrejko suchte geflissentlich seine Taschen ab, obwohl er wusste, dass es dort keinen Ausweis gab.
    Die Mitreisenden warfen Andrejko mürrische Blicke zu, als wäre es seine Schuld, dass der Zug seit einer halben Stunde dort stand und warten musste, bis die Zöllner ihre Runde beendet hatten, als wäre ausgerechnet dieser schmutzige und schlecht riechende Zigeuner für die unnötige Verzögerung verantwortlich, für diese Grenze, die noch gestern nicht da gewesen war. Schließlich befahl der Zöllner Andrejko, ihm zu folgen, und brachte ihn mit Darja in das Bahnhofsgebäude, an dem in hell leuchtenden Buchstaben Horní Lideč stand.
    Ein Name, der so sanft klingt, als wollte er einem die Seele streicheln, schoss Andrejko durch den Kopf, als man ihn und das weinende Mädchen in einen Raum mit anderen Festgenommenen hineinbugsierte. Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihnen ins Schloss, Andrejko drehte sich um und erstarrte, denn von innen gab es keine Klinke.
    Die Neonröhre an der Decke blinkte auf und erlosch gleich wieder.
     
    |332| Jetzt haben sie mich, dachte er und drückte das Mädchen noch fester an sich, jetzt haben sie mich erwischt, jetzt sperren sie mich ein oder hängen mich gleich auf. Seine Augen glitten über die Wände, das kleine Fenster war sehr schmal, aber Andrejko war dünn, da passte er durch, die Zöllner waren ohnehin noch mit dem Zug beschäftigt. Er stürzte zum Fenster, riss es auf, kalte Luft strömte herein, und die anderen im Raum, Ukrainer, Armenier oder Kurden, sie alle hoben die Köpfe, aber keiner rührte sich, manche berieten leise, wie viel sie wohl hinblättern müssten, wenn sie mit dem nächsten Zug weiterwollten.
    Das hier war nicht die erste Grenze, die sie auf ihrer Flucht überwinden mussten, auch sie waren ins Gelobte Land unterwegs.
    Aber Andrejko beachtete niemanden und warf den Rucksack zum Fenster hinaus, schob Darja hinterher und ließ sie los, zum Glück war es nicht hoch, dann quetschte er sich durch die Öffnung und sprang, schulterte den Rucksack, nahm das Mädchen auf den Arm und rannte los, so schnell er konnte, weg von den Zöllnern und weg von der Zelle ohne Klinke   …
    Jetzt würde ihm keiner mehr die Tür vor der Nase zuschlagen.
     
    Nachdem die Zöllner auch den letzten Waggon abgefertigt hatten und der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, bemerkten die Reisenden aus Andrejkos Abteil auf der Straße neben den Gleisen eine unter einem schweren Rucksack gebeugte Gestalt, die mit einem Kind auf dem Arm auf dem Seitenstreifen dahinwankte.
    Erst am nächsten Bahnhof machte Andrejko halt, unter einem Schild mit dem schönen mährischen Namen Lidečko.

|333| 27.
    In der Bahnhofsgaststätte von Vsetín stand der Wirt am Zapfhahn wie ein Pfarrer vor dem Altar; feierlich, als hielte er einen Gottesdienst ab, stocherte er mit einer Gabel in einem Einmachglas, zog sauer eingelegte Fleischwurst mit Zwiebelringen heraus und zapfte riesige Gläser golden funkelndes Bier mit weißer Schaumkrone, als wollte er sagen: Nehmet und trinket alle daraus, denn das ist mein Blut und mein Leib, das Blut dieses Landes, das für Euch vergossen wurde   … Beim Servieren musste er sich seinen Weg durch Zigarettenrauch
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