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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe
Autoren: Petra Hammesfahr
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für sich allein, um in Ruhe und mit der nötigen Distanz nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Mit ihm leben, weil er einen Menschen brauchte, der für all das sorgte, was er sich selbst nicht beschaffen konnte. Sie konnte ihm mehr geben als Patrizia, weil sie sich nicht teilen musste zwischen Ehe, Baby und Bauernhof. Und er gab dafür zurück, was sie brauchte. Ihn kümmerte es nicht, dass sie ein Bein nachzog und ihr Gesicht nicht perfekt war.
    Aber es würde ein harter Kampf werden, und sie wusste nicht, ob sie es durchstand. Sich hinwegsetzen über all die gerümpften Nasen, die spöttisch-abfälligen Blicke, den Dorfklatsch, der unweigerlich aufkommen musste. Sie konnte sich das lebhaft vorstellen. Eine junge Frau in Lukkas Bungalow und dann auch noch mit Ben.
    Dann sprach Nicole davon, die Kriminalpolizei über die Vorgänge im Dorf zu informieren. Es war nicht mehr die Zeit zu überlegen. Plötzlich stellte sich nur noch die Frage, ob man ihr glaubte, dass er seit Juni die Nächte bei ihr verbracht hatte. Niemand wusste davon, er kam spät in der Nacht, ging sehr früh am Morgen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn mitzunehmen, ohne jemanden einzuweihen. Nur hatte sie in dem Moment keine andere Möglichkeit gesehen, ihn zu schützen.
    Die lange Fahrt hatte er verschlafen. Fünf Schlaftabletten in einer Flasche Cola, sonst wäre er vermutlich unruhig geworden. So war er nur verblüfft gewesen bei der Ankunft, hatte die fremde Umgebung bestaunt, zum ersten Mal etwas mehr gesehen von der Welt, und es sah nicht einmal sehr viel anders aus als das kleine Stück, das er kannte.
    Es waren ein paar herrliche und unbeschwerte Tage gewesen trotz allem. Mit jeder Stunde war ihre Sicherheit gewachsen, ebenso ihre Bereitschaft, über gerümpfte Nasen und alles andere hinwegzusehen. Er war es wert. Sie hatten lange Spaziergänge gemacht, bei Wind und Wetter, ihre ersten Spaziergänge nach einer Ewigkeit – ohne einen Hund an der Leine, ohne Lügen, meist ohne ein Wort. Und welcher Mann konnte das schon, stundenlang neben einer Frau durch strömenden Regen laufen und schweigen? Jeder andere hätte sich an die Stirn getippt, sie für verrückt erklärt. Er nicht, weil man ihn schon vor langer Zeit für verrückt erklärt hatte. Und sie fand, das war er nicht.
    An den Abenden hatte er geschnitzt. Leute im Wald   – Svenja Krahl und der Mann, der sie vergewaltigt und in Lukkas Arme getrieben hatte. Die Gesichter waren immer noch winzig, aber mit einer starken Lupe gut zu erkennen.
    Als sie zurückkamen am frühen Morgen und in die Garage fuhren, hatte sie ihn im Wagen sitzen lassen müssen, weil er noch so fest schlief. Aber er musste längst aufgewacht sein. Und dass er gegangen war, ohne noch einmal nach ihr zu sehen. Oder dass er sie so gesehen hatte und trotzdem nicht zurückkam, weil er meinte, tagsüber brauche Patrizia seine Hilfe   …
    Es waren doch nicht so schöne Gedanken. Vor dem späten Abend kam er nie, sie konnte nicht noch Stunden so liegen, musste ans Telefon. Zwei Meter vom Fußende des Bettes entfernt stand die Rettung auf einem Glastisch nahe dem Fenster. Und sie durfte sich nicht bewegen, war allein in einem Haus, in dem fünf Menschen gestorben waren – nicht nur sehr wahrscheinlich, ganz bestimmt. Allein mit dem Tod, meinte sie, ihn neben ihrem Bett zu sehen, einen schmächtigen, alten Mann, der mit sanfter, eindringlicher Stimme sagte: «Du hast die Augen deinerMutter. Wenn ich dich sehe, geht es mir immer prächtig. Nun komm, kleine Maus. Komm zu mir, du wolltest doch immer einen Vater wie mich.»
    Außer seiner Stimme hörte sie nichts.

21.   Oktober 1997   –   17   :   15   Uhr
    Ins Haus kamen wir durch das Garagentor, das Ben einige Stunden zuvor von innen aufgebrochen hatte, wodurch er zu seinen Verletzungen am Arm gekommen war. Den Bungalow durch die Haustür zu verlassen, war ihm nicht möglich gewesen. Die Tür war verschlossen, weit und breit kein Schlüssel zu sehen. Er musste an ihrem Bett gewesen sein. Aber das Messer in ihrem Rücken hatte er nicht angerührt.
    Ich weiß nicht, warum er es stecken ließ. Er kann nicht gewusst haben, dass sie gestorben wäre, wenn er es herausgezogen hätte. Er kann auch nicht gewusst haben, dass er die fast perfekte Planung des Mörders durchkreuzt hatte mit seinem unvorhersehbaren Verhalten. Miriam Wagner wäre gestorben zu einem Zeitpunkt, als er wieder im Dorf war. Und wir hätten auf der Tatwaffe nur seine Fingerabdrücke
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