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Lügen & Liebhaber

Lügen & Liebhaber

Titel: Lügen & Liebhaber
Autoren: Susanne Fülscher
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vierundzwanzig Stunden. Ich brauchte immer ein Vielfaches an Zeit, und auch dann war ich mir selten sicher, ob mein Gefühlsbarometer tatsächlich bei »verliebt« eingerastet war. Adriano war da nur die Ausnahme gewesen, die die Regel bestätigte. Doch bevor Karl Armknecht sich meinetwegen noch vom Balkon stürzte, schlug ich ihm vor, ihn alsbald in Berlin zu besuchen.
    »Fein«, sagte er. Und dann machte er mir eine ganze ReiheKomplimente, die in der Tat nur ein komplett Verliebter zustande bringt. Armer Kerl. Als er wenig später ging, war mir klar, daß die Geschichte irgendwie weitergehen würde.
    *
    Die Kaffeetafel war mit Villeroy & Boch gedeckt, der flämische Apfelkuchen gebacken, Verwandt- und Bekanntschaft eingeladen, mein Kardiologen-Bruder Thomas angereist, die Zweitfamilie meines Vaters ebenfalls – nur der Held meiner Kinderträume selbst hielt mal wieder einen wichtigen Hugo-von-Hofmannsthal-Vortrag in Ankara. Dabei hätte es ihn doch am meisten freuen müssen, daß seine Tochter so folgsam in seine Fußstapfen getreten war und auch noch eine passable Prüfung hingelegt hatte. Na gut. War auch so genug Brimborium um meine Person. Und ich böses Geschöpf dachte nur daran, wie ich mich schnellstmöglich vom Acker machen konnte. Wenn ich nach draußen schaute, war alles wie in meiner Kindheit. Der gelbliche Wohnblock gegenüber, auf dessen Balkons Tag und Nacht sowie Sommer und Winter Wäscheständer und allerlei Gerümpel herumstanden. Kaum ein Baum, nur ein paar mickrige Sträucher, und wenn man die Sackgasse zurück bis zur Bushaltestelle ging, stieg einem der säuerliche Geruch der nahegelegenen Marmeladenfabrik in die Nase.
    Ein Armutszeugnis für meinen Vater. Der hatte nämlich nach seiner Scheidung nie dafür gesorgt, daß meine Mutter von seinem beruflichen Aufstieg profitierte und in eine nettere Gegend ziehen konnte. Statt dessen schob er das Geld seinen verwöhnten Techno-Gören Caroli und Senta in den Rachen.
    Aber ich wollte nicht mäkeln. Schließlich war heute mein Tag, und ich funktionierte, wie man es von mir erwartete. Mein Lächeln war unecht, als ich von Madrid erzählte, von Weickels tragischem Tod und vom Studium, insbesondere von mittelhochdeutschen Lautverschiebungen. Es lief alles wie geschmiert, nur als mich ein Bekannter meiner Mutter fragte, was ich denn nun zu tun gedächte, mußte ich leider passen.
    »Und Sie haben nicht Pädagogik studiert? Sonst könnten Sie immerhin Lehrerin werden.«
    »Wie öde«, antwortete ich, obwohl ich wußte, daß es meine Mutter nicht gerade erfreuen würde.
    Aber zum Glück war ja mein Bruder anwesend, und dieser berichtete bereitwillig von den neuesten Herzforschungsergebnissen. Wie man mittlerweile annahm, sollten Bakterien für den Infarkt verantwortlich sein, was bei dem Großteil der Gäste Panik auslöste, den dicken Onkel Ferdinand jedoch dazu bewog, sich ungeniert noch zwei Stücke Buttercremetorte auf den Teller zu laden. Herzverfettung gab es demzufolge ja nicht mehr. Im übrigen fand die erlauchte Gesellschaft die Herzinfarktproblematik erheblich interessanter als Lautverschiebungen, und da das Stichwort Bakterien nun schon mal gefallen war, ließ sie es sich nicht nehmen, mit ihren Wehwehchen ganz ohne Hemmungen bei meinem Bruder vorstellig zu werden.
    Den Anfang machte Tante Inge. Seit geraumer Zeit litt sie unter nervösen Kopfschmerzen, woraufhin mein Bruder meinte, er sei Kardiologe, und sie solle doch einfach mal ihren Hausarzt konsultieren oder es mit Johanniskraut probieren.
    »Johanniskraut?« Tante Inge hatte etwas Hysterisches im Blick.
    »Sind das nicht Drogen?«
    Mein Bruder dementierte, klärte Tante Inge dann noch über verschiedene neuzeitliche Drogen auf – was niemanden so recht zu interessieren schien –, dann war Herr Mauser, ein Nachbar von gegenüber, an der Reihe. Ihn plagten Quaddeln und Juckreiz am Oberschenkel, außerdem klagte er über eine verstärkte Anfälligkeit für Mückenstiche. Mein Bruder verwies Herrn Mauser an dessen Hautarzt und/oder Apotheker.
    In dieser Art ging es noch eine Weile weiter, so daß ich mich fragte, warum ich es nicht als Berufsziel anstrebte, verwirrten Hypochondern ein bißchen Trost zu spenden und sie dann zu Fachärzten zu schicken. Damit konnte man sicher einen Haufen Geld machen.
    Irgendwann schaltete ich ab. Die anwesenden Damen undHerren hatten sich jetzt sowieso ganz und gar auf meinen Bruder und dessen spezielle Fähigkeiten eingeschossen. Immer wieder mußte ich
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