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Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)

Titel: Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Autoren: Christian Ditfurth
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stützte die Ellbogen auf die Sessellehne und schaute Anne ins Gesicht. »Der meinte mich.«
    »Aber er hat nicht getroffen. Der wollte dich nicht töten. Der hat irgendeinen Unsinn getrieben. Ein Halbstarker, der in der Zeitung stehen wollte, der jetzt vor seinen Kumpels angibt, was für ein mutiger Kerl er ist. Vielleicht lief da eine Wette? Der lag auf dem Dach und wartete auf einen armen Kerl, dem er Angst einjagen konnte, und der arme Kerl warst dummerweise du.«
    Stachelmann überlegte, versuchte sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen war. Wie soll ich damit leben, dass es einen gibt, der mich vielleicht doch töten will? Der vielleicht nur zu aufgeregt war, um zu treffen? Aber kann man viermal vorbeischießen? Die Entfernung war nicht groß, vielleicht hundert Meter. Und die Schüsse lagen alle haarscharf daneben. Das ist auch eine Art von Genauigkeit. Du bist ihm aufgefallen, du hast dich bewegt. Du hast auf ihn reagiert, das hat ihn womöglich herausgefordert. Oder ihm Spaß gemacht. Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Vielleicht warst du doch nicht gemeint. Anne hatte recht. Er sprach es aus: »Vielleicht wollte er mich doch nicht umbringen. Wenn ich es mir genau überlege.«
    »Siehst du«, sagte sie. »Wenn mir so etwas passieren würde, ich würde ausflippen und mich wochenlang verkriechen. Es sei denn, jemand zwänge mich, das zu verarbeiten. Das musst du sofort tun, bevor sich der Irrsinn festsetzt. Wir gehen heute Abend noch aus. Du musst verstehen, dass die Wahrscheinlichkeit mehr als gering ist, ein zweites Mal an einen schießwütigen Irren zu geraten. Es wird nie wieder jemand auf dich schießen.«
    »Die Wahrscheinlichkeit ist in meinem Fall nicht geringer als bei jedem anderen Menschen. Die Statistik interessiert sich nicht für die Vergangenheit. Denk an Spieler im Casino. Beim Roulette bleibt die Kugel auf der 35 liegen. Wer würde in der folgenden Runde seine Chips auf die 35 legen? Kaum einer. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass die 35 getroffen wird, genauso groß wie bei jeder anderen Zahl. Die Kugel merkt sich nicht, wo sie beim letzten Mal ausgerollt ist.«
    »Dass du schon wieder auf Schlaumeiereien verfällst, zeigt, dass es dir besser geht. Fast schon wieder der Alte.« Sie lachte leise. Stachelmann hörte Erleichterung heraus.
    Sie tranken Tee und schwiegen eine Weile. Stachelmann mühte sich im lautlosen Dialog mit sich selbst, das Ereignis zu verstehen. Vielleicht war der Täter bereits verhaftet. Ein Verrückter, einer, der ausgeflippt war, dessen Nerven einem Stress nicht mehr standgehalten hatten. Warum hatte er sich die Universität ausgesucht? Warum nicht die Mönckebergstraße? Den Gänsemarkt? Den Hafen? War es ein ehemaliger Student? Einer, der durch eine Prüfung gefallen war? Der es nicht geschafft hatte? »Vielleicht so einer wie ich?«, sagte Stachelmann.
    Anne schaute ihn fragend an.
    »Na ja, einer, der nicht zu Potte kommt und sich einredet, es liege nicht an ihm, sondern an der Universität, die sein Genie verkenne, unterdrücke, du weißt, was ich meine.«
    »Wie kommst du auf dich?«
    »Ich gebe zu, es ist ein bisschen schief.«
    »Eben. Du bist habilitiert, Herr Professor in spe! Es war zwar eine Würgerei, aber dafür am Ende mit Jauchzen und Frohlocken. Weißt du nicht mehr, wie Bohming gejubelt hat, als der Habilitationsausschuss dich beglückwünschte?«
    Natürlich wusste er noch, wie sein Chef, der Lehrstuhlinhaber Professor Bohming mit dem Spitznamen »der Sagenhafte«, so getan hatte, als hätte eigentlich er die Habilitationsschrift verfasst oder als wäre sie wenigstens nie so gut geworden ohne seine Betreuung. Das war vor wenigen Wochen im Senatssitzungssaal im Hauptgebäude der Universität gewesen. Eine großartige Arbeit habe Stachelmann vorgelegt. Das sagte nicht nur Bohming, dessen Betreuung sich darin erschöpft hatte, Stachelmann immer wieder an den Abgabetermin zu erinnern. Andere munkelten von der Karriere, die Stachelmann unweigerlich bevorstehe. Nachdem der so lange habe bangen müssen um seine Vertragsverlängerung, würde es nun in Rekordzeit klappen. Keine Fragen, keine Einwände.
    Am meisten bewegt hatte ihn Annes Lob. Er habe nicht nur eine gute Arbeit geschrieben, sondern gezeigt, dass auch ein Wissenschaftler nicht gleichgültig sein müsse gegenüber menschlicher Not, ohne dabei seinen Anspruch aufzugeben. Besonders die Darstellung des Falls Rohrschmidt habe sie gerührt. Das war ein Kölner Historiker, den die
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