Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
Vom Netzwerk:
unter den parkenden Autos kroch der Nebel hervor. Nur die Straßenlaterne vor unserem Haus sonderte ein trübes Licht ab. Es flackerte.
    Dann sah ich ihn.
    Er lehnte an der Laterne, eine schattenhafte Gestalt, und für eine absurde Sekunde dachte ich, er wäre Sebastian. Aber das stimmte nicht. Es war ein Fremder – ob Mann oder Junge, konnte ich nicht erkennen, doch ich war mir sicher, dass es ein männliches Wesen war.
    Schmal und dunkel lehnte er an der Laterne und sah zu mir hinauf. Sein Gesicht war kaum mehr als ein blasser Fleck und sein Haar schwärzer als die Nacht. Der lange Mantel wirkte zu groß über den schmalen Schultern.
    Er stand da wie festgefroren. Das Einzige, was sich bewegte, war das flackernde Licht der Laterne, die anund wieder ausging, an und aus. Selbst als mein Blick ihn traf, rührte der Fremde sich nicht, er schaute nur weiter unvermittelt zu meinem Fenster auf, als ob er auf mich gewartet hätte.
    Es war ein zutiefst unheimliches Bild, aber ich hatte merkwürdigerweise überhaupt keine Angst. Im Gegenteil, ich sah auf die fremde Gestalt unter der Laterne und fühlte, wie etwas in mir zur Ruhe kam. Die Panik fuhr die Krallen ein und zog sich zurück und mit einem Mal wurde ich sehr müde.
    Regungslos stand ich da, tat nichts, dachte nichts, schaute nur den Fremden an. Und dann ging ich zurück ins Bett, kuschelte mich unter die Decke und schloss die Augen.
    Diesmal kam der Schlaf ganz sanft. Er hüllte mich mit weichen Schattenfingern ein. Das Fenster war weit geöffnet und das Letzte, was ich wahrnahm, war der Regen, der wieder einsetzte, flüsternd und rauschend wie ein Gutenachtlied.

ZWEI
    Aus weiter Ferne drang das Piepsen des Weckers an mein Ohr. Es kam näher, wurde fordernder, schriller, bis es sich wie eine Spirale in meinen Kopf bohrte. Als ich die Bettdecke zurückschlug, fühlte ich mich wie gerädert. In meinem Zimmer herrschten arktische Temperaturen, den kleinen Bären hielt ich noch immer in der Hand. Fröstelnd ging ich zum Fenster, das weit offen stand. Als ich auf die Straße sah, fiel mein Blick als Erstes auf die Laterne. Der Platz darunter war leer. Einer unserer Nachbarn verließ gerade das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Auf dem Bürgersteig kreischte Lasse, der kleine Junge aus der Wohnung im Erdgeschoss, weil ihm sein Brötchen aus der Hand gefallen war, und vor einem der Bäume hob ein wuscheliger Mischlingshund sein Bein.
    Die Straße sah aus wie an jedem anderen Morgen. Aber warum machte mir der gewohnte Anblick mehr zu schaffen als der von letzter Nacht? Der Fremde hatte direkt in mein Fenster gestarrt, was im Tageslicht betrachtet wirklich eine gruselige Vorstellung war. Die Tatsache, dass der Platz unter der Laterne jetzt leer war, sollte mich also eigentlich beruhigen, aber das tat er nicht – im Gegenteil.
    Ich schüttelte meinen Kopf, um das wattige Gefühl loszuwerden.
    Was war nur mit mir los?
    Vermutlich hatte mich mein Albtraum so aus der Bahn geworfen. Die Träumerin in unserer Familie war eigentlich Spatz, die ich manchmal sogar um ihre nächtlichen Abenteuerreisen beneidete,während ich mich morgens fast nie daran erinnern konnte, dass ich überhaupt geträumt hatte.
    Musste es ausgerechnet dieser Traum sein, der mir in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben war? Seltsamerweise hatten sich besonders die Farben dieses Raumes in irgendeinem Winkel meines Hirns eingebrannt. Dieser plüschige grüne Teppich, die Tagesdecke mit den bunten Blümchen – rot, gelb und violett. Gequält grinste ich auf. Du meine Güte, ich würde in einem holzgetäfelten Zimmer mit geblümter Tagesdecke und einem grünen Plüschteppich sterben, das war wirklich ein Albtraum.
    Was wohl Suse dazu sagen würde?
    Ich riss mich vom Fenster los, ging unter die Dusche und drehte den Warmwasserhahn bis zum Anschlag auf. Das heiße Wasser half tatsächlich. Als ich aus dem Bad kam, fühlte ich mich – na ja, wie neugeboren wäre eine Wunschvorstellung gewesen – aber zumindest etwas besser.
    Ich schlüpfte in die Jeans von gestern, zog ein Shirt und einen Kapuzenpulli über und ging in die Küche. Spatz saß in ihrem schwarzen Kimono am Frühstückstisch. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und ihre kleinen Hände legten sich um die Suppentasse mit heißer Milch. Über den Rand ihrer Tasse hinweg warf sie mir einen ihrer typischen Spatz-Blicke zu, mit denen sie ganze Romane erzählen konnte. Vor allem morgens, wenn sie zu verschlafen war, um einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher