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Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
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Sebastian beherrschte die englische Sprache fast so gut wie unser Lehrer und war ein geübter Vorleser, aber trotzdem hatte ich Mühe, mich zu konzentrieren. Was Schlaf betraf, gehörte ich eindeutig in die Kategorie Murmeltier. Acht Stunden waren normalerweise mein Minimum, alles, was darunter lag, schlug sich nicht nur auf mein Nervensystem nieder. Und heute spürte ich das ganz besonders. Meine Gedanken fingen an zu wandern, und ehees mir bewusst wurde, standen mir wieder dieser grottenhässliche grüne Plüschteppich aus meinem Traum vor Augen, die geblümte Tagesdecke, die Glasscherben und das viele Blut; dazu dieses Gefühl, dass sich jemand über mich beugte, den ich anbettelte, mich am Leben zu lassen.
    Hinter meinen Schläfen pochte es schmerzhaft. Versuchsweise schloss ich die Augen und dann sah ich das nächste Bild: die dunkle Gestalt, die an der Laterne lehnte und unverwandt zu mir hochblickte.
    Ich riss die Augen wieder auf, weil mir der Schweiß ausbrach.
    Dass Tyger mich erneut im Blick hatte, machte es nicht besser. Ich versuchte, ihm auszuweichen, aber etwas in seinem Ausdruck war anders als sonst. Wenn ich meinen Englischlehrer nicht so gut gekannt hätte, hätte ich geglaubt, dass er sich Sorgen um mich machte.
    »Was ist mit dir los, Becky?«, fragte Suse in der Mittagspause. Wir standen wie jeden Tag bei Doris’ Diner an der Theke und warteten auf unser Essen.
    »Ist es wegen Tyger? Dieser Arsch. Warum hasst er dich so? Nur weil dein Vater Ami ist? Was sagt dein Dad eigentlich dazu? Hast du mit ihm darüber gesprochen? Wie wär’s, wenn du ihn mal zu Tyger in die Sprechstunde schickst? Wollte er nicht vor Weihnachten noch einmal nach Deutschland kommen?«
    Ich musste gleichzeitig gähnen und grinsen. Meine beste Freundin konnte mühelos drei Dutzend Fragen aneinanderreihen, ohne die Antwort abzuwarten. Aber diesmal kam sie zurück auf den Ursprung. »Jetzt mal im Ernst. Warum bist du so blass wie Lovells Lord aus dem Nebelmoor?«
    »Bist du sicher . . .«, setzte ich an.
    »Willst du einen Spiegel?« Suse nahm unsere Chickenburger mitPommes frites entgegen. »Frag Sheila, die leiht dir vielleicht einen aus ihrer Sammlung.«
    »Danke, Suse, ich weiß, wie ich aussehe. Ich wollte sagen: ›Bist du sicher, dass du das hören willst?‹«
    »Spinnst du? Schieß los. Ist es . . . wegen ihm? Bereust du es?«
    Suse nickte zum Tisch neben der Tür. Dort saß Sebastian, umringt von der gesamten Tussenfraktion, und pustete sich gerade eine Haarsträhne aus dem Auge. Sebastian hatte dichte, geschwungene Wimpern und den sinnlichsten Mund, den ich je gesehen hatte. Letzten Sommer hatte ich ihn beim Eisdealer im Schanzenviertel gefragt, wie Zabaione-Eis auf seiner Zunge schmecken würde. Keine Ahnung, was damals in mich gefahren war. Gleich darauf war ich jedenfalls in hysterisches Gekicher ausgebrochen und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Aber Sebastian hatte eine Augenbraue hochgezogen und einen Schritt auf mich zugemacht. Dann hatte er meine Frage beantwortet.
    Als ich jetzt auf meinen Burger wartete und seinen spöttischen Blick erwiderte, wurde die Erinnerung in mir plötzlich wieder sehr lebendig. Nicht nur die Küsse, sondern all die Monate, die auf meine Frage gefolgt waren, hatten sich richtig angefühlt. Gut.
    Aber etwas hatte doch gefehlt. Als ich vor fünfeinhalb Wochen Sebastians Hand festhielt, die unter meiner Bettdecke auf Wanderschaft ging, sah er mir in die Augen und sagte: »Du hast nicht Angst, dass ich dich fallen lasse. Du hast Angst, dass du mich fallen lässt. Deshalb willst du nicht mit mir schlafen. Stimmt’s?«
    Als ich meinen Kopf an Sebastians Schulter vergrub, stieß er mich sanft von sich. Dann stand er auf und ging.
    Seitdem hatten die Möchtegernjulias ihn wieder. Sie klebten an ihm wie die Fliegen und mittlerweile hatte Sebastian aufgegeben, sich dagegen zu wehren.
    »Hier, dein Burger.« Suse schob mir mein Tablett zu und wir gingen zu unserem Tisch. Als wir an der Gruppe um Sebastian vorbeikamen, stierte Sheila mich an, als ob sie mich am liebsten zum Mond schießen wollte. Sie hockte Sebastian fast auf dem Schoß.
    »Hey Becks, tut mir leid wegen heute Morgen«, murmelte Sebastian. Es war das erste Mal seit unserer Trennung, dass er mich Becks nannte. »Ich wollte nicht . . .«
    »Hast du aber«, zischte Suse. »Friss das nächste Mal deine Calvinunterhose, dann hältst du wenigstens die Klappe.«
    Sheila schnappte nach Luft. An ihrem pinkfarbenen Lipgloss
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