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Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
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vollständigen Satz herauszubringen. Heute sagte ihr Blick: Janne hat erzählt, was letzte Nacht mit dir war. Ich hoffe, es geht dir besser.
    Mein Platz am Frühstückstisch war schon gedeckt. Janne war ein Morgenmensch. Wenn um halb sechs ihr Wecker klingelte, sprang sie in ihre Joggingsachen, lief ihre Runde an der Elbe und war bereit für den Tag. Ihre ersten Klienten empfing sie meist um halb acht, so wie heute Morgen auch.
    Ich zog den Zahnstocher aus meinem Sesambrötchen. An seinem oberen Ende klebte ein Zettel mit einem zähnefletschenden Strichmännchen. Zeig Tyger den Tiger, tausend Küsse, Mam , stand darunter. Ich musste grinsen, vor allem über die Zeichnung. Jannes Malkenntnisse waren auf dem Stand einer Fünfjährigen.
    Mach dich nicht über deine arme Mutter lustig, sie hat den halben Morgen an diesem Kunstwerk gearbeitet , sagte Spatz’ Blick.
    Ich biss versuchsweise in das Brötchen, und als mein Magen nicht rebellierte, schob ich eine Scheibe Salami und ein Schälchen Krabbensalat hinterher, weniger aus Hunger als in der vagen Hoffnung, damit das leere Gefühl in meiner Brust zu bekämpfen, das ich immer noch nicht losgeworden war.
    Mein Unterricht begann erst um acht, aber ich verließ das Haus ein wenig früher als sonst und überquerte die Straße. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Laterne vor unserem Haus und blickte zu meinem Fenster hinauf. Es lag im vierten Stock. Ich versuchte, mir vorzustellen, was der Fremde gesehen oder vielmehr: gesucht hatte. Mich?
    Meine Augen wanderten ein Stockwerk weiter runter. »Oder Frau Dunkhorst«, sagte ich laut und versuchte, meine nervtötende Stimmung wegzualbern, was auch prompt klappte.
    Frau Dunkhorst war eine Hypochonderin, vor der alle Mitbewohner im Treppenhaus die Flucht ergriffen. Letzten Monat hatte es Spatz nicht mehr rechtzeitig geschafft und musste sich eine halbe Stunde lang die gefährlichen Symptome einer höchst seltenen Augenkrankheit anhören, die Frau Dunkhorst angeblich befallen hatte. Unter geschlossenen Lidern sah sie tanzende Mücken und ging davon aus, dass sich ihre Netzhaut jede Minute ablösen konnte. Mehrmals pro Woche rief Frau Dunkhorst den Notarzt, einmal hatte sie bei sich selbst einen Milzriss diagnostiziert.
    Ich grinste und drehte mich entschlossen um. Okay, die Sache lag auf der Hand. Der Typ von gestern Nacht war vermutlich ein entnervter Sanitäter gewesen, der im Schutz der Dunkelheit ausgekundschaftet hatte, wie er Frau Dunkhorst am besten um die Ecke bringen konnte.
    Ich ging in die Garage, schloss mein Fahrrad auf und war ein paar Minuten später unterwegs.
    Mein Englischlehrer saß schon am Pult, als ich das Klassenzimmer betrat. Sein Name war Morton Tyger. Mit seinem grau melierten Haar, der hohen Stirn und den blitzblauen, beunruhigend wachen Augen hatte er etwas von einem englischen Aristokraten, der ins falsche Zeitalter gerutscht war. Wie immer hatte er ein Buch vor der Nase, eine Tasse dampfenden Tee in der Hand und trug einen altmodischen Anzug, dunkelgrau mit einer hellblauen Seidenfliege. Aus seiner Jacketttasche lugte die goldene Kette von Tygers Taschenuhr, ohne die ich meinen Englischlehrer noch nie gesehen hatte.
    Dass er mein gemurmeltes »Good Morning« mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte, war ich ebenfalls gewohnt. Trotzdem versetzte mir sein Verhalten immer wieder aufs Neue einen Stich. Es ist eine Sache, von einem Lehrer nicht gemocht zu werden, in dessen Fach man eine Niete ist. Aber bei mir war das Gegenteil der Fall. Englisch hätte schon allein deshalb mein bestes Fach sein können, weil ich dank Dad zweisprachig aufgewachsen war und mich nicht wie die anderen mit dem Lernen von Vokabeln abquälen musste.
    In Tygers Unterricht gab es jede Menge davon. Dabei hielt er sich weder an Lehrpläne noch an die Inhalte unserer Englischbücher. Stattdessen lasen wir Kurzgeschichten oder Romane, hauptsächlich klassische Science-Fiction oder Schauergeschichten britischer Schriftsteller. Wie Tyger damit durchkam, war uns allen ein Rätsel, aber offensichtlichwagte es nicht mal unsere strenge Direktorin, sich diesem eigenwilligen Lehrer zu widersetzen.
    Als ich mich auf meinem Platz neben Suse niederließ, musterte Tyger mich noch einmal über den Rand seines Buches hinweg. Doch diesmal blieb sein Blick länger an mir hängen und auf seiner hohen Stirn bildete sich eine winzige Falte.
    »Hilfe«, sagte Suse, die mich ebenfalls von der Seite anstarrte. »Hast du Drogen gefrühstückt? Du
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