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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Sonne, – sie geküßt rasch und innig, begeistert und zärtlich begierig, und sie hatt' es geschehen lassen. Dann {35} aber hatte sie sich hienieden geradeso vortrefflich benommen wie droben im Schönen, – ja, eben darum durfte sie dort für immer eine so schmerzlich edle Figur machen, weil sie sich hier zu verhalten gewußt hatte wie auch die pietätvollste Tochter es nur verlangen konnte. Denn es war in aller Herzlichkeit ein wirrer und sinnloser, ein unerlaubter, unzuverlässiger und wie aus einer anderen Welt kommender Kuß gewesen, ein Prinzen- und Vagabundenkuß, für den sie zu schlecht und zu gut war; und hatte der arme Prinz aus Vagabundenland auch Thränen danach in den Augen gehabt und sie ebenfalls, so hatte sie doch in ehrlich untadligem Unwillen zu ihm gesagt: »Pfui, schäm' er sich! Daß er sich so etwas nicht noch einmal beikommen läßt, sonst sind wir geschiedene Leute! Dies bleibt nicht zwischen uns, daß er's weiß. Noch heute sag' ich es Kestnern.« Und wie er auch gebeten hatte, es nicht anzusagen, so hatte sie es doch an dem Tage noch ihrem Guten redlich gemeldet, weil er's wissen mußte: nicht sowohl, daß jener es getan, als daß sie es hatte geschehen lassen; worauf sich denn Albert doch recht peinlich berührt gezeigt hatte und sie im Lauf des Gesprächs, auf Grund ihrer vernünftig-unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit zu dem Beschlusse gelangt waren, den lieben Dritten nun denn doch etwas kürzer zu halten und ihm die wahre Sachlage entschieden bemerklich zu machen.
    Unter ihren Lidern sah sie noch heute, nach soviel Jahren, mit erstaunlicher Deutlichkeit die Miene vor sich, die er bei dem überaus trockenen Empfang gemacht, den ihm die Brautleute am Tage nach dem Kuß und namentlich am übernächsten Tage bereitet, als er abends um zehne, da sie mit einander vorm Hause saßen, mit Blumen gekommen war, die so unachtsam waren aufgenommen worden, daß er sie weggeworfen und sonderbaren Unsinn peroriert, in Tropen geredet hatte. Er konnte ein merkwürdig langes Gesicht haben damals unter seinem gepuderten über den Ohren gerollten Haar: mit großer, {36} betrübter Nase, dem schmalen Schatten des Schnurrbärtchens über einem Frauenmündchen und schwachem Kinn, auch traurig bittenden braunen Augen dazu, klein wirkend gegen die Nase, aber mit auffallend hübschen seidig-schwarzen Brauen darüber.
    So hatte er dreingeschaut den dritten Tag nach dem Kuß, als sie, dem Ratschluß gemäß, ihm in dürren Worten erklärt hatte, damit er sich danach richte: daß er nie etwas andres werde zu hoffen haben von ihr als gute Freundschaft. Hatte er denn das nicht gewußt, – da ihm bei dem klaren Entscheid geradezu die Wangen eingefallen waren und er so blaß geworden war, daß Augen und Seidenbrauen sich in sehr dunklem Kontrast aus dieser Blässe hervorgetan hatten? Die Reisende verbiß ein gerührtes Lächeln unter ihrem Tuch indem sie sich dieser unvernünftig enttäuschten Kummermiene erinnerte, von welcher sie Kestnern nachher eine Beschreibung gemacht, die nicht wenig zu dem Entschlusse beigetragen hatte, dem lieben, närrischen Menschen zum Doppelgeburtstag, seinem und Kestners, dem verewigten 28. August, zusammen mit dem Taschen-Homer die Schleife zu senden, eine Schleife vom Kleide, damit er auch etwas habe …
    Charlotte errötete unter dem Tüchlein, und der Schlag ihres dreiundsechzigjährigen Schulmädelherzens verstärkte, beschleunigte sich wieder. Dies wußte Lottchen, die Jüngere, noch nicht, daß ihre Mutter in der Sinnigkeit so weit gegangen war, an der Brust des vorbereiteten Kleides, der Nachahmung des Lottekleides, die fehlende Schleife auszusparen. Sie fehlte, ihr Platz war leer, denn Jener besaß sie, der Entbehrende, dem sie sie im Einvernehmen mit ihrem Verlobten zum Trost hatte zukommen lassen, und der das gutmütig gespendete Andenken mit tausend ekstatischen Küssen bedeckt hatte … Die Pflegerin Bruder Karls mochte nur kritisch die Mundwinkel senken, wenn sie diese Einzelheit der mütterlichen Erfindung {37} entdeckte! Zu ihres Vaters Ehren war sie erdacht worden, des Guten, Getreuen, der einst das Geschenk nicht nur gebilligt, sondern es selber angeregt und trotz allem, was auch er um des ungebärdigen Prinzen willen gelitten, mit seinem Lottchen geweint hatte, als Er auf und davon war, der ihm beinahe sein Liebstes geraubt.
    »Er ist fort«, hatten sie zu einander gesagt, als sie die Zettel gelesen, gekritzelt nachts und am Morgen, – »Ich lasse Euch
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