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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Autoren: Sandra Roth
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Abends im Bett sagt er: »Ich habe mir überlegt, ich will lieber noch eine Schwester.«
    »Keinen Bruder, wie Floris einen hat?«
    »Und ich möchte lieber, dass die auch behindert ist. So wie Lotta.«
    »Wieso das denn?«
    »Behinderte Schwestern machen das Piratenschiff nicht kaputt.«
    Ich sitze im Dunkeln neben ihm. 80 Prozent der Geschwister behinderter Kinder kommen klar, heißt es.
    »Kann man das aussuchen, Mama?«
    »Was?«
    »Na, dass man eine behinderte Schwester will.«
    Kurz sehe ich mich beim Pränataldiagnostiker sitzen und sagen: »Nicht behindert? Wie sollen wir das unserem Sohn erklären?« Ich sage: »Eher nicht, nein. Was im Bauch drin ist, ist drin.«
    »Kann man nicht schütteln?«
    »Schütteln?«
    »Wie beim Überraschungs-Ei. Da kann man schütteln und hören, ob das klingt wie was Schönes.«
    »Und wenn es nicht schön klingt?«
    »Dann stellt man es ins Regal zurück.«

    Würden wir dieselben Tests machen wie beim letzten Mal? Bei Lotta haben alle frühen Tests nichts genutzt. Ihr Hirnschaden war eine Überraschung. Die größere Überraschung war, dass ein tiefes Grübchen wichtiger sein kann als ein perfektes Gehirn.
    »Aber hätten wir die Kraft für noch ein Kind, das zusätzliche Hilfe braucht?«, frage ich Harry.
    »Das muss ja nicht noch mal passieren.«
    »Und wenn doch?«
    »Das ist doch nicht genetisch.«
    »Es gibt so viel anderes. Ich bin jetzt 35, da gelte ich als Risikoschwangere.«
    »Das ist wie beim Schlittenfahren. Wenn du stürzt, musst du gleich noch mal den Hügel rauf«, sagt Harry. »Nun sei mal kein Feigling.«
    Ich schüttele den Kopf. Schwanger werden erscheint mir nicht wie Schlittenfahren. Es erscheint mir wie Russisch Roulette. Man kann nie wissen. Es kann jeden treffen.
    Harry sagt: »Wir können ja Tests machen, wenn du willst ...«
    »Und dann? Könntest du ein Kind wie Lotta abtreiben? Selbst in der zwölften Woche – jetzt wo du weißt, wie es sein kann ...?«

25

»I love my brain«
Von Pro-Kontra-Listen und einer Fahrradtour

    Wer jemals 24, 48 oder gar 72 Päckchen für den Adventskalender verpackt hat, weiß, wie langweilig das sein kann. Wir treffen uns bei Clara, ab halb neun. Andrea kommt auch, sie hat drei Kinder. Jeder bringt seine eigenen Kleinigkeiten mit und einen Karton mit Sachen für alle. »Braucht noch jemand Flummis?«, »Ich habe noch Piratentattoos«, »Olchi-Bleistifte?«. Weihnachtsmusik, Rotwein, Kekse und Schokolade. Alle Jahre wieder. Es ist Mitte November 2012. Diesmal sind wir früh dran.
    Auf Bens Geschenkehaufen liegen Lego-Figuren, Pixi-Bücher, eine rote und eine gelbe Karte fürs Fußballspielen. Alles nichts für Lotta. Olchi-Bleistifte kann sie nicht halten, Piratentattoos nicht sehen, an einem Schoko-Nikolaus könnte sie ersticken. Was packt man so einem Kind in den Adventskalender? Vor mir liegt Knisterfolie, Lametta zum Fühlen, Leuchtsterne zum An-die-Decke-Kleben. Lotta kriegt dieses Jahr ihren ersten Kalender.
    Als wir schon sitzen, klingelt es. »Rafaela«, stellt Clara uns den Neuzugang vor und holt noch ein Weinglas aus der Küche.
    Rafaela kippt ihre Sachen auf den Tisch und setzt sich neben mich. Für Päckchen Nr. 1 packt sie ein Mini-Skateboard ein, das man mit den Fingern steuern kann. Auf ihrem Haufen liegen Star-Wars-Lego-Figuren, ein Zauberwürfel und ein kleiner Basketballkorb für den Mülleimer. »Wie alt ist deiner?«, frage ich.
    »40«, sagt sie.
    »Oh, tut mir leid.«
    »Muss es nicht, Jan ist super.« Clara schenkt Rafaela Wein ein. Sie hebt das Glas. »Und nicht mehr lange. Wenn alles gut geht, packe ich nächstes Jahr einen Baby-Adventskalender.«
    Wir johlen. Clara sagt: »Stell sofort das Weinglas hin. Ich mach dir einen Tee.«
    »Quatsch«, sagt Rafaela. »Wir fahren erst nach Costa Rica, danach gehen wir das Projekt Baby an.« Wir trinken auf das Projekt Baby.
    Ich sage: »Ich trinke auf neun Monate ohne Diazepam!«
    »Diazepam?«, fragt Rafaela.
    »Meine Tochter ist behindert und hat Epilepsie. Das ist unser Notfallmedikament.«
    »Tut mir leid.«
    »Muss es nicht. Lotta ist super.«

    Wenn mein Leben eine Sitcom wäre, würden wir jetzt anstoßen und weiterquatschen. Stattdessen Schweigen und Papiergeraschel. Clara sieht mich an, hochgezogene Augenbrauen. Mit ihr funktioniert das. Da kann ich sagen: »Lotta hat sich heut Nacht zweimal übergeben«, und sie antwortet: »Fritz macht wieder ins Bett«. Kinder. Nichts als Ärger. So ist es, unser Leben. Clara ist nah genug dran. Doch in
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